„Sehnsucht“ durchzog das Programm der Philharmoniker des Staatstheaters Nürnberg: Sehnsucht zu fliegen wie Ikarus, zu lieben wie Tschaikowsky, mit Tönen zu spielen wie in Mozarts Konzert. Joana Mallwitz, nach Babypause bereits bei Haydns Schöpfung und einer konzertanten Aufführung des Pelléas von Debussy wieder musikalisch aktiv, hatte manchmal sicher Sehnsucht nach dem Musizieren verspürt, und nahm nun auch für die Philharmonischen Konzerte den Dirigentenstab gewohnt energiegeladen auf. Erst zwei Tage zuvor waren die Corona-Beschränkungen gelockert worden, und in einem bewundernswerten Kraftakt waren vom Ticketbüro Bestuhlung und Karten für 50% Belegung in der Meistersingerhalle organisiert und verteilt worden. So gab es für herzlichen Auftrittsbeifall gleich doppelten Grund.

Lera Auerbach, in Russland aufgewachsen, lebt und arbeitet in den USA wie in Österreich; sie komponiert, ist auch Pianistin und als Schriftstellerin und Bildhauerin tätig. Die griechische Sagenwelt begleitet sie seit Jugendjahren, und der Mythos des an seinem Übermut scheiternden jungen Mannes hat sie besonders fasziniert: Ikarus aus dem Jahr 2011 fordert eine große Orchesterbesetzung, darunter zwei Harfen, Celesta, Klavier, gestimmte Wassergläser – und ein Theremin. Der 25-jährige Theremin-Virtuose Grégoire Blanc aus Paris spielte ein modernes, von ihm mitentwickeltes Modell des 1919 erfundenen Instruments. Nur mit Hand- und Armbewegungen, ohne direkte Berührung, werden in einem elektromagnetischen Feld zweier Antennen schlanke, sinusartige Töne erzeugt, können in feinster Variation bei Tonhöhe und Lautstärke bis zu stufenlosen Glissandi sphärische Klangwirkungen aufgebaut werden.
Um dem kretischen Labyrinth zu entkommen, entwirft in der Sage Daedalus kunstvolle Flügel, deren Federn mit Wachs an ein Gestell geklebt sind. Er schärft seinem Sohn Ikarus ein, nicht allzu hoch zu fliegen, da das Wachs sonst in der Sonnenhitze schmelzen könnte. Im Übermut fliegt Ikarus immer steiler, stürzt ins Meer. Lera Auerbachs Tondichtung zog die Hörer sofort in ihren Bann: ein perkussiver Beginn und gezupfte Streicher signalisierten Geschäftigkeit, die Grenzen zu überwinden. Immer schneller modulierende Geigen formten ariose Gedanken, hohe Violinsoli (expressiv Mio Saito am ersten Pult) assoziierten die Sehnsucht nach Freiheit. Immer höher, wunderbar virtuos klang das Orchester, wie ein Abheben und kraftvolles Aufschwingen; die bildgewaltige Musik ließ die Fantasien spielen. Doch wenn Auerbach schreibt, dass ihre Musik abstrakt angelegt sei, war kein Scheitern auszumachen, blieb am Ende der positive Aspekt, dass der Wunsch erfüllbar, das Ziel der Sehnsucht erlebbar sein könnte.
Mozarts Klarinettenkonzert A-Dur, in seinem Todesjahr komponiert, ist als Spätwerk doch ein jugendlich frisches, ebenso flottes wie farbiges Stück. Sharon Kam, seit langem vielbewunderte Konzertsolistin, spielte auf einer Bassettklarinette, für die Mozart es tatsächlich geschrieben hat, und kostete die volle, dunkel tiefe Lage dieses selten präsentierten Instruments intensiv aus. Mallwitz hatte eine herrlich geschmeidige, tänzerische Introduktion mit dem Philharmonikern angestimmt, deren Impetus Kam sofort in ihrer Körpersprache aufnahm, dann singend, gestikulierend, im besten Sinne auch „dudelnd“ in der Tiefe runde, bauchige Klangperlen ins Orchester mischte, aber auch die fahlen Zwischenharmonien mit großer Schattierungspalette ausspielte. Gewagte Sprünge zwischen den Extremlagen gelangen mit spielerischer Intensität und Lebendigkeit. Fast schwerelos und sphärisch schimmernd, mit viel Legatoatem und trotzdem glasklar wie ein instrumentales Arioso zog das Adagio vorbei; voller Spiellaune, biegsam, in großer Linie weit ausholend das abschließende Rondo. Als spritzige Zugabe und nun auf einer A-Klarinette ausgeführt: augen- und lippenzwinkernd Walking the Dog von George Gershwin.
Unglückliche Ehe, Ausgrenzung aus der Gesellschaft auf Grund seiner Homosexualität, Verlustängste: für Peter Iljitsch Tschaikowsky bedeutete Sehnsucht wohl, geliebt und angenommen zu werden, die Selbstverleugnung beenden zu können. Die Dramen der persönlichen Erfahrungen um 1877 hat er in seiner Vierten Symphonie in Tönen ausgedrückt: Klang gewordene Schwermut, Einsamkeit, auch Glück, wie er seiner Mäzenin und Vertrauten Nadeschda von Meck schrieb. Mallwitz und die Philharmoniker verloren sich nicht im Rausch der schönen Stellen, sie wählte vorwärts drängende Tempi, nicht sentimental oder süß, ähnelte in Klarheit der Artikulation dem russischen Idiom der Leningrader unter Mrawinsky oder Mariss Jansons' farbenreicher Strenge.
Der erste Satz im gleichzeitig treibenden und auf der Stelle tänzelnden 9/8-Takt kam in ganz großem Bogen; insbesondere die Solisten in Oboe und Fagott (Ralf-Jörn Köster und Aurelius Benedikt Voigt) beeindruckten durch die Ruhe beseelter Themenvorstellungen. Unendliche Streichermelodien im Andantino mit affirmativen Blechbläsern im Mittelteil. Das herrlich im Pizzicato gespielte Scherzo hatte Stil, den vierten Satz markierten gemeißelte Tuttischläge ebenso wie süffige Diminuendi in heiter-melodiösen Violoncello-Kantilenen. Ob sich Tschaikowskys Sehnsucht erfüllt? Es klang wohl eher die Fröhlichkeit der Anderen aus dem vehementen Schluss.