Die Reise zu Bachs Wurzeln, Vorbildern und Erbanlagen aus dem Alt-Bachischen Archiv ist einer der Schwerpunkte beim diesjährigen Bachfest Leipzig, das sein ausgefallenes Programm „BACH – We are FAMILY!” von 2020 nachholt. Das Ton Koopman-Konzert dieser Reihe, mit dem der Präsident des Leipziger Bach-Archivs (zugleich Vorsitzender der Buxtehude-Gesellschaft) sein Amt ursprünglich erstmalig einweihen wollte, sollte vor zwei Jahren auch in der Kölner Philharmonie gespielt werden. Es erlebte dort ebenfalls seine aufgeschobene Verwirklichung, indem Amsterdam Baroque Orchestra & Choir dem historischen Zweig der eigentlichen Komponisten-Sippschaft eine Stimme gaben und dafür ein Füllhorn der „auserlesensten Kirchen-Stücke“ von Schütz, Buxtehude, Johann Michael, Johann Christoph und Johann Sebastian Bach ausschütteten.

Ton Koopman © Foppe Schut
Ton Koopman
© Foppe Schut

Jenes aufschlussreich klingende Album der Erinnerung sowie weltlichen und sakralen Vergewisserung von Ehrfurcht und Liebe musste dabei natürlich mit dem geistigen wie allseits geschätzten, quasi dadurch schon patchwork-artigen Übervater und diesjährigen Jubilar Schütz beginnen. Im geistlichen Konzert Es steh auf Gott meisterten dazu die Sopransolistinnen Elisabeth Breuer und Martha Bosch die brennend-heiklen „zerstreuet“-Figuren in technisch-stilistisch und dezent-brillierender Klarheit und erwiesen sich mit erster Ciaccona des Abends als beredte Botschafterinnen des Erzengels Michael. Als nahezu vibratolos und tugendrein phrasierte Allegorie der Weisheit leuchtete Breuer zudem in Johann Michael Bachs (Vater Johann Sebastians erster Ehefrau Maria Barbara) pfiffigen Ratswechselkantate Die Furcht des Herren den Weg. Und zwar für die versammelte, geschlossene, weich-vollmundig abgestimmte Stadtregierung des Amsterdam Baroque Choir, die sich der inbrünstigen Intonation-Wortführerschaft des langgedienten Kämmerers (Tilmann Lichdi) unter den prachtvollen Klängen von zwei Geigen, Bratschen, Celli, Violone, Theorbe, Dulzian und Orgel anschloss.

Einen festlichen, gerechten Richterspruch in jenseitiger Etage hält Michael mit seinen Angestellten im geistlichen Doppelchor-Konzert Es erhub sich ein Streit bereit, die vor Johann Sebastians bekanntem Kantaten-Stück Johann Christoph, Vetter Bachs Vater und Sohn des Begründers der Arnstädter Bach-Linie, Bruder Johann Michaels und Organist in der Eisenacher Taufkirche, komponiert und der Thomaskantor später aufgeführt hatte. Großen Eindruck hinterließ Johann Christophs Werk damals und jetzt, als einem Trompetenconsort und vor allem die heftig feuer- und salutknallende Pauke sowohl die kräftigen Battaglia-Repetierungen im Gefecht mit dem Teufel als auch die feierlich-wachende Siegeshymne der Himmelscapella elektrisierend um die Ohren schlug.

Ekstatisch erotischerer Art ging es in dessen ebenso bekannten oder vielleicht noch verbreiteteren Trauungskantate, dem Hochzeitsdialog Meine Freundin, du bist schön zu, als Breuer und Bass Klaus Mertens ihre Reize im theatralisch-bildhaften, umgarnenden Vorspiel und Garten-Stelldichein austauschten. Der Sopran mit angetan-lieblicher, deklamatorischer Hingabe und überzeugendem Register, der tiefe, auf seine Kosten kommende Partner mit lüsterndem Charme und besonders unmissverständlich passionierter Begierde. Von Konzertmeisterin Catherine Mansons virtuos und genießend sicheren, umschlängelnden Ciaccone, Verzierungen und Diminutionen inspiriert, wuppten Breuer, Maarten Engeltjes, Lichdi und Mertens auch ihre heikle Ornamentik im stapfend-tanzenden, teils jolend-freudigen Quodlibet-Mahl mit ausgiebigem Gratias aller.

Mit Buxtehude, mit dessen Tochter Johann Sebastian verheiratet worden wäre, wäre Bach in Lübeck geblieben und hätte seinen musikalischen Halb-Tastenziehvater im Amt beerbt, kam man sinnfällig zur Kantate Nichts soll uns scheiden, in der die intime, fromme, durch die Violinen Mansons und David Rabinovichs Umspielungen aufgelockerte Grundstimmung auf den eindringlichen Text abgestimmt war auf die fast neckisch wirkenden, aber jedenfalls besonders bestimmten „Nichts“-Ritornelli. Den bei Buxtehude durch die Höhe stets äußerst herausfordernden Sopranpart absolvierte Bosch dabei mit kindlichem Geschick und Timbre, Engeltjes seine Strophe mit warmer Kultivierung. Die kurzen, verschwindenden „Nichts“-Enden griff Johann Sebastian in seiner Mühlhäuser Ratswechselkantate Gott ist mein König auf, deren Neuerfindung nach zwei weiteren Beauftragungen trotz Weggangs dann wiederum sein Nachfolger, der Sohn Johann Michaels, zu verantworten hatte. Erbaulich und klar umrissen erfolgte die Wiedergabe von ABO&C, wozu der ausgewogene, zum weisen, demütigen Bürgermeister beförderte Lichdi im Orgeldialog von Koopman und dessen Gattin Tini Mathot, die ehrerbietende Rechenschaftsgrenzziehung Mertens' mit Blockflöten und Oboen, der beweglich-beschwörende Engeltjes, die ehrwürdige Fuge der Solisten, die gediegene Friedenswiege des Tutti sowie der bedächtige Segen mit nochmals fulminanter Pauke beitrugen.

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