Boulez zum Hundersten: Das Festspielhaus in Baden-Baden feierte Pierre Boulez bei den Pfingstfestspielen mit vielfältigen Konzerten; angefangen mit Musik von Frank Zappa, den Boulez auch aufführte, bis hin zu diesem Abschlusskonzert mit Teilen seiner Notations und der Vierten Symphonie von Anton Bruckner.
Bruckner und Boulez erscheinen auf den ersten Blick als Fremde. Doch hat Pierre Boulez sich am Schluss seiner Karriere als Dirigent mit dem österreichischen Symphoniker auseinandergesetzt und von ihm die Siebente und Achte aufgeführt. Wenn auch stilistisch als Komponisten Welten zwischen beiden liegen, Parallelen gibt es dennoch. Gerade die stete Überprüfung ihrer Werke, das Feilen an ihnen bis zum idealen Ergebnis – diese Haltung verbindet Boulez mit Bruckner, der seine Symphonien immer mehrfachen Revisionen unterzogen hat, seine Vierte allein dreimal. Boulez verstand seine Kompositionsarbeit grundsätzlich als work in progress. Oft hat er sie nie als fertig betrachtet oder sogar absichtlich nicht vollendet.
Die Douze Notations, die er als Zwanzigjähriger zwar in der Klavierfassung als abgeschlossen ansah, nahm er mehr als 20 Jahre später noch einmal vor, um sie für das Orchester aufzubereiten – allerdings nicht im Sinne einer notengetreuen Orchestrierung, sondern mit den Mitteln eines Riesenorchesters suchte er den Klangraum zu erweitern. So unterzog er das musikalische Material einiger der zwölf Miniaturen (die in der Fassung für Klavier aus jeweils zwölf Takten von maximal einer Minute Dauer bestehen) einer Art Zellteilung oder Wucherung, so dass aus diesem Bearbeitungsprozess große Orchesterstücke von ungeheurer Mächtigkeit und Farbigkeit des Klangs entstanden.
Wie sich das Material der Klavierfassung in den Orchesterfassungen wiederfinden lässt, wurde in diesem Konzert in besonderem Maße offenbar, weil Pierre-Laurent Aimard, im höchsten Maß authentischer Interpret des Boulezschen Klavierwerks, vor der Orchesterfassung jeweils die Klavierfassung spielte. So ließ sich die Kompositionsweise – Boulez spricht von Proliferation – unmittelbar erschließen. Das SWR Symphonieorchester fügte der Klavierfassung unmittelbar die klangliche Großversion der einzelnen Teile in der vom Komponisten empfohlenen Reihenfolge hinzu. Auch dieses Werk hat Boulez nicht vervollständigt: von den zwölf Klavierstücken gibt es nur fünf in der Orchesterfassung.