Boulez zum Hundersten: Das Festspielhaus in Baden-Baden feierte Pierre Boulez bei den Pfingstfestspielen mit vielfältigen Konzerten; angefangen mit Musik von Frank Zappa, den Boulez auch aufführte, bis hin zu diesem Abschlusskonzert mit Teilen seiner Notations und der Vierten Symphonie von Anton Bruckner.

Pierre-Laurent Aimard © Michael Gregonowits
Pierre-Laurent Aimard
© Michael Gregonowits

Bruckner und Boulez erscheinen auf den ersten Blick als Fremde. Doch hat Pierre Boulez sich am Schluss seiner Karriere als Dirigent mit dem österreichischen Symphoniker auseinandergesetzt und von ihm die Siebente und Achte aufgeführt. Wenn auch stilistisch als Komponisten Welten zwischen beiden liegen, Parallelen gibt es dennoch. Gerade die stete Überprüfung ihrer Werke, das Feilen an ihnen bis zum idealen Ergebnis – diese Haltung verbindet Boulez mit Bruckner, der seine Symphonien immer mehrfachen Revisionen unterzogen hat, seine Vierte allein dreimal. Boulez verstand seine Kompositionsarbeit grundsätzlich als work in progress. Oft hat er sie nie als fertig betrachtet oder sogar absichtlich nicht vollendet.

Die Douze Notations, die er als Zwanzigjähriger zwar in der Klavierfassung als abgeschlossen ansah, nahm er mehr als 20 Jahre später noch einmal vor, um sie für das Orchester aufzubereiten – allerdings nicht im Sinne einer notengetreuen Orchestrierung, sondern mit den Mitteln eines Riesenorchesters suchte er den Klangraum zu erweitern. So unterzog er das musikalische Material einiger der zwölf Miniaturen (die in der Fassung für Klavier aus jeweils zwölf Takten von maximal einer Minute Dauer bestehen) einer Art Zellteilung oder Wucherung, so dass aus diesem Bearbeitungsprozess große Orchesterstücke von ungeheurer Mächtigkeit und Farbigkeit des Klangs entstanden.

Wie sich das Material der Klavierfassung in den Orchesterfassungen wiederfinden lässt, wurde in diesem Konzert in besonderem Maße offenbar, weil Pierre-Laurent Aimard, im höchsten Maß authentischer Interpret des Boulezschen Klavierwerks, vor der Orchesterfassung jeweils die Klavierfassung spielte. So ließ sich die Kompositionsweise – Boulez spricht von Proliferation – unmittelbar erschließen. Das SWR Symphonieorchester fügte der Klavierfassung unmittelbar die klangliche Großversion der einzelnen Teile in der vom Komponisten empfohlenen Reihenfolge hinzu. Auch dieses Werk hat Boulez nicht vervollständigt: von den zwölf Klavierstücken gibt es nur fünf in der Orchesterfassung.

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Maxime Pascal dirigiert das SWR Symphonieorchester
© Michael Gregonowits

Aimard stellte sie in großer Dichte und höchster Präzison am Klavier vor, das Orchester folgte in ebensolcher Nuancierung. Es entstanden großartige Klangräume: wie die filigranen, surrealistisch anmutenden Gewebe in den Holzbläsern zu Beginn von Nr. 1, die scharfen Pointierungen des umfangreichen Percussionsapparates in Nr. 4, der ruhig fließende Gedankenstrom in Nr. 3 oder die wilde Rhythmik mit gleißenden Klangkaskaden in Nr. 2.

Dem SWR Symphonieorchester scheint die Musik von Boulez genetisch eingepflanzt, hat es doch mit ihm als Komponist und Dirigent selbst häufig zusammengearbeitet. Ja, er ist sogar dessen früherem Chefdirigenten Hans Rosbaud wegen überhaupt nach Baden-Baden gekommen. Auch Maxime Pascal, der für den erkrankten neuen Chef François-Xavier Roth eingesprungen war, hatte sichtlich einen intensiven Draht zu dieser Musik. Mit ausladender Geste modellierte er in größter Genauigkeit die Klangblöcke der unterschiedlichen Orchestergruppen.

Klangblöcke sind auch die strukturellen Elemente des Komponierens bei Anton Bruckner. Vor allem im Finale der Vierten gilt es, die Architektur des monumentalen Satzes und das Auf und Ab der Stimmungen herauszuarbeiten. Pascal gelang dies in bezwingender Weise. Vom lapidaren Beginn über den ruhigen Mittelteil bis hin zum triumphalen Finale erhielt er mit dem Orchester Hochspannung bis zum Schluss. Schon in den vorhergehenden Sätzen bauten sich faszinierende Klangräume von großer Plastizität auf: Klang räumlich gedacht, was bereits in den Boulezstücken hervorstechend war.

Bezwingend auch die Lesart des jungen Dirigenten: Bruckner ohne Weihrauch und losgelöst von außermusikalischen Bildzuschreibungen war es ein objektives Klangbild, das er entstehen ließ. Dabei ungemein klar in der musikalischen Aussage und – auch hier – in perfekter klanglicher Diktion.

Ein Konzert, das nachhallte: wegen der Programmgestaltung ebenso wie hinsichtlich der überaus gelungenen Interpretation.

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