Vor vierzig Jahren in Opernführern noch unerwähnt, inzwischen auf großen Bühnen weltweit präsent und zum Publikumsmagneten mutiert: Erich Wolfgang Korngolds Oper Die tote Stadt. In deren Hauptrolle brillieren Startenöre von Kollo bis Kaufmann als Paul, einem von Visionen zerrissenen Künstler zwischen zwei Frauen. Auch im anspruchsvollen Spielplan des engagiert auftretenden Staatstheaters im südthüringischen Meiningen hatte diese in vielen Facetten ausstrahlende Oper nun umjubelten Premierenerfolg.
1920 rissen sich viele Opernhäuser um die Uraufführung der Toten Stadt des gerade 23-jährigen Korngold, der trotz seines jugendlichen Alters bereits als Genie angesehen wurde; Hamburg und Köln machten schließlich das Rennen. 1934 musste Korngold nach Amerika emigrieren, da seine Kompositionen in der Nazizeit keine Chance mehr hatten. In Hollywood schrieb er erfolgreich Filmmusik; seine Befähigung dazu lässt gerade der Orchestersatz der Toten Stadt schon mehr als vorausahnen. Als Korngold 1949 wieder nach Wien reiste, war sein Werk dort ebenso wie im übrigen europäischen Musikleben in Vergessenheit geraten.
Das von Korngolds Vater Justus verfasste Libretto basiert auf der Novelle Bruges-la-Morte des Belgiers Georges Rodenbach. Die „tote Stadt” Brügge dient hier als Hintergrund für die Geschichte von Paul, der seit dem frühen Tod seiner Frau Marie mit seiner Haushälterin Brigitta nur noch in der Erinnerung lebt und Bilder und Reliquien in einem Raum seines Hauses wie in einer „Kathedrale des Gewesenen“ als geradezu makabren Totenkult pflegt. Eines Tages taucht mit einer fahrenden Operntruppe die Tänzerin Marietta in der Stadt auf. Sie ist der toten Marie zum Verwechseln ähnlich; als Paul augenblicklich von ihr hingerissen ist, gerät er wegen des Treueversprechens, das er gegenüber Marie geleistet hat, in einen schweren Konflikt. Kann er so einfach Marietta mit Marie gleichsetzen? Dass sein Freund Frank ebenfalls ein Verhältnis zu Marietta eingeht, kompliziert die Gefühlslage zusätzlich. Und was macht diese Situation mit der lebenshungrigen und temperamentvollen Marietta?
Pauls Haus ist in Meiningen eine weitläufige, in fünf Kompartiments aufgeteilte Wohnung mit düster-schwarzen Wänden, die auf der Drehbühne einen fließenden Wechsel der jeweiligen Kulisse ermöglichen (eindrucksvolle Szenenbilder: Wolf Gutjahr). Bilder der Verstorbenen überall, Videoclips (Jana Schatz) aus glücklichen Tagen auf verstreuten Bildschirmen, dimmbares LED-Licht, das schwermütige Grundstimmung ebenso ausstrahlen kann wie die prickelnd erotischen Stimmungen in der virtuos aufgedrehten Cabaret-Szene von Marietta und ihren Komödiantenkollegen.
Für Regisseur Jochen Biganzoli hat der ursprüngliche geographische Ort keine Bedeutung, statt in Brügge könnte die Handlung auch in Bielefeld oder Bregenz spielen. Eine in die Gegenwart transponierte Szenenfolge glücklicher Tage von Paul und Marie sowie der Schock des todbringenden Autounfalls, in raumhohen Videoclips projiziert, nimmt die Zuschauer gleich am Anfang unmittelbar gefangen. Dazu frappierend elegische Streichermusik von Korngolds Sinfonischer Serenade, die das originale kurze Vorspiel zur schicksalhaft aufgeladenen großen Ouvertüre wachsen lässt. Dann Pauls auflodernde Begeisterung nach seiner Begegnung: „Licht in meinen Tempel! Die Toten stehen auf.“ Er überhäuft Marietta mit Rosensträußen und Liebesschwüren. Doch spätestens als Marietta in Pauls Gemächern die aufreizenden Relikte vorfindet, durchschaut sie seine Gefühlsausbrüche, fordert von ihm eine ungeteilte Beziehung und spürbare Wahrnehmung ihrer Persönlichkeit.
Dass Marie nicht nur als Stimme aus dem Off erscheint, sondern von Biganzoli als körperliche, zweite Sängerin auf der Bühne gebracht wird, ist ein entscheidender Kunstgriff seiner Inszenierung. Beide Frauen lassen die Kraft ihrer Persönlichkeit spüren, treiben Paul zu Zweifeln, machen ihre Begegnung und Auseinandersetzung zu atemberaubenden Momenten. Deniz Yetim gab der untoten Marie gedämpfte, wundervoll warm getönte Mezzofarben, eine überzeugende Verkörperung von Pauls Erinnerung. Lebenslustig und lasziv, aber unter schriller Oberfläche doch verletzt von Pauls Wankelmut: spielerisch wie stimmlich vollbrachte Lena Kutzner eine stupende Riesenleistung als Marietta, imponierte in glasklaren Sopranhöhen ebenso wie im rauchigen Cabaret-Ton ihrer Opern-Persiflage, die von ihrer Theater-Kompanie (bravourös Monika Reinhard, Marianne Schechtel, Johannes Mooser, Stefan Meus, Rafael Helbig-Kostka) in rasantem Rausch zur Stimmungsaufhellung im zweiten Akt aufgespielt wurde.
Schade, dass die Rolle der Brigitta nicht mehr Spielraum bot. Tamta Tarielashvili gefiel durch geschickte Registerwahl ihres wunderbar klangvollen Mezzosoprans. Ebenso ausgereift und in farbenreich timbriertem Bariton agierte Tomasz Wija als Frank.
Charles Workman, einziger Gast im ausgezeichneten Ensemble, teilte seine leicht metallisch leuchtende Stimmkraft klug ein, begeisterte bis zum Schluss mit brillanter Rollenidentifikation. Den tenoralen Schmelz hob er sich auf bis zum berühmten „Glück das mir verblieb“, das – den Anfang aufnehmend – als Video gedoppelt von sacht wogendem Kornfeld umweht wurde.

Chin-Chao Lins Orchesterführung verortete Korngolds Musik im Umfeld ihrer Zeit, ließ morbiden Charme von Puccinis Melodienstrom ebenso wie eklektischen Rosenkavalierton durchtönen, scheute aber auch hart reibende Disharmonien des inneren Zwiespalts nicht. Ein atmosphärisch dichtes Erlebnis: eine Reise wert!