Nach einigen Monaten Sanierungspause begann die neue Saison des Bayerischen Staatsorchesters in München ganz ungewohnt nicht mit einer Opernaufführung, sondern dem ersten Akademiekonzert. GMD Vladimir Jurowski begrüßte das Publikum mit dem Wunsch „Happy New Ears“ für klangvolle Musikerlebnisse, frei nach dem Titel einer Stiftung des Ehepaars Zender, von dem im zweiten Teil noch ein markantes Werk folgen wird. Und Glückwünsche gab es nach dem Konzert auch noch von Torsten Kutschke, Verleger der renommierten Musikzeitschrift Opernwelt, deren Kritikerumfrage das Staatsorchester zum elften Mal in Folge als „Orchester des Jahres“ auszeichnete: dank einer außergewöhnlichen Leistung, die das Konzert des Klangkörpers an diesem Abend eindrucksvoll unterstrich.

Vladimir Jurowski © Geoffroy Schied
Vladimir Jurowski
© Geoffroy Schied

Modest Mussorgskis Vorspiel zur Oper Chowanschtschina (arr. Dmitri Schostakowitsch) ist eigentlich keine Ouvertüre, sondern eine ruhige Einstimmung zum ersten Akt. „Morgendämmerung über der Moskwa“ ist das kurze Orchesterstück übertitelt, das die besondere Stimmung des Tagesanbruchs ausdrückt: nach Mussorgski „die Frühmesse mit den erwachenden Hähnen, die Ablösung der Wachposten“. Die friedliche Idylle wird durch eine zarte Melodie in hohen Lagen thematisiert. Eine wunderbar lyrische Stimmung, die durch Geigen, Klarinette und Harfe entsponnen wurde und mit Flöte und Oboe neue Färbungen erfuhr.

Dmitri Schostakowitsch erholte sich von einem Schlaganfall auf der Krim und vollendete dort sein Zweites Cellokonzert, dessen Uraufführung für das Fest anlässlich seines 60. Geburtstags angesetzt wurde. Den Solopart übernahm – wie beim Vorgängerwerk – Mstislaw Rostropowitsch, der einst Komposition bei Schostakowitsch studiert hatte, bevor er sich ganz dem Cello verschrieb. Der Komponist, dem Gedanken- und künstlerische Freiheit lange verwehrt blieben, wollte aktuelle Lobhudeleien sowjetischer Kulturkommissare zu seinem Geburtstag konterkarieren. Von Beginn an überwiegen dunkle Töne; das Violoncello wirkt wie ein Winterwanderer, der allein durch kalte Stationen seines Lebens schreitet. Motivfetzen erinnern an frühere Werke wie sein Achtes Streichquartett, ohne direkte Zitate zu sein.

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Yves Savary
© Geoffroy Schied

Yves Savary, in Basel geboren, ist seit langem Solocellist des Staatsorchesters. Seine Darbietung überzeugte vom ersten tiefen Ton an mit ausgefeilter Artikulation und makelloser Intonation. Seine Lesart war nachdenklich und introspektiv, traf die Seele der tiefgründigen Musik. Dem Solisten folgten im einleitenden Largo aufmerksam die tiefen Streicher, dann die Harfe, das solistische Horn, mit die Hörer quasi in sich hineinsaugenden Kantilenen. Brutal erklang die Solokadenz, in der das Cello immer wieder von dumpfen Schlägen der Trommel unterbrochen wird. Auch Xylophon und Pauke sorgten für skurrile wie düstere Momente, Staccato-Gelächter der Fagotte mischte sich ein. Die Umspielungen eines Volkslieds im Mittelsatz, bei denen Orchester und Solist das innere Gegeneinander in Diktaturen nachstellen, meisterte Savary bewegend. Am Ende des tragischen Lamentos: ein 16 Takte langer getragener Celloton, unter motorischen Motiven des Schlagwerks. Aufwühlend!

Die 1997 entstandene Schumann-Phantasie für großes Orchester von Hans Zender bildete den grandiosen Abschluss dieses Akademiekonzerts. „Eine mentale Vorbereitung“ setzte Jurowski an den Beginn; beschrieb, wie er dieses Werk vor gut zwanzig Jahren in Berlin in Anwesenheit des Komponisten einstudiert hatte. Es ist ebenso eine Variation über Schumanns Fantasie C-Dur für Klavier wie ein fantastisches Fortspinnen der Gedankengänge des Robert, dessen Geliebte Clara Wieck auf Geheiß ihres unerbittlichen Vaters per Brief gerade die tiefe Verbundenheit mit Robert beendet hatte. Wie schon bei Schuberts Winterreise wird Zenders komponierte Interpretation weit mehr als eine Orchestrierung: sie gibt dem Original verstörende Radikalität zurück.

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Bayerisches Staatsorchester
© Geoffroy Schied

Schumanns Melodik, Harmonik und Rhythmik bleiben in Zenders Phantasie fast unverändert, bekommen in der orchestralen Fassung neue Klangräume, gerade durch das reich ausgestattete Schlagwerk, das mit Vibraphon, Marimba, Glockenspiel und Cowbells die Perkussivität und das dramatische Potenzial des Originals ausweitet. In einem Präludium sowie zwei Interludien reflektierten acht Streicher die originalen Gedankengänge, holen deren Empfindungen mittels Tremoli oder Flageoletten sanft dissonant in Zenders Gegenwart. Vier Hörner und ein Klarinettist waren zudem im Saal oder Foyer unterwegs und hoben die gewohnte Klangentwicklung im Raum auf. Jurowski und sein Staatsorchester zeigten im gewaltigen, 50-minütigen Titanenwerk eine tief beeindruckende, nachschöpferische Klanghandschrift, die in vielen Details solistischer Passagen ebenso wie in markanten Tutti-Passagen geradezu expressionistische Intensität bekam. Die überzeugende Annäherung an die existenzielle Wucht des Originals wurde in der Staatsoper einmütig bejubelt.

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