Wer das ganze Tagesprogramm mitmachen will, muss früh aufstehen. Vormittags sind ein Offenes Singen und ein kurzes Orgelkonzert angesagt. Mittags wandert man zum Aussenbezirk Monstein und wird in der dortigen Kirche zu einem kammermusikalischen Nachmittagskonzert mit der Klarinettistin Ann Lepage und dem Trio Streich geladen. Wer mag, kann nach dem Abendessen die interaktive Ausstellung Allein 2.0, ein edukatives Projekt mit Davoser Schülern und Schülerinnen, geniessen. Hauptveranstaltung bildet dann das Konzert des Barbican Quartet im Kongresszentrum Davos – jenem Gebäude, in dem alljährlich das World Economic Forum abgehalten wird.

Zwei Merkmale sind es, die dem Davos Festival sein Gepräge geben: erstens der Bezug des Programms zum Ort und zur umgebenden Berglandschaft, zweitens die Begegnung mit jungen Musikerinnen und Musikern, die schon ein gewisses Renommée geniessen, aber noch nicht in aller Kritiker Munde sind. Nehmen wir das Barbican Quartett. Drei der Mitglieder, die Geigerin Amarins Wierdsma, der Bratscher Christoph Slenczka und die Cellistin Yoanna Prodanova, haben sich während ihres Studiums an der Guildhall School in London kennengelernt. 2015 erfolgte das Gründungskonzert im Barbican Center. 2022 stiess Kate Maloney als neue zweite Violinistin zum Ensemble. Betreut von Günter Pichler (dem Gründer des Alban Berg Quartetts) und dem Quatuor Ébène, konnten die vier jungen Musiker im letzten Sommer mit dem ersten Preis beim Internationalen ARD-Wettbewerb in der Kategorie Streichquartett einen vielversprechenden Erfolg verbuchen.
In Davos führt sich das Barbican Quartet mit dem kaum bekannten Poem der britisch-amerikanischen Komponistin Rebecca Clarke ein. Es handelt sich um ein stimmungsvolles, polyphon durchgearbeitetes Werk, bei dem sich das Ensemble als sensible Truppe mit einem homogenen Klang vorstellt. Dass zu Beginn die Komposition einer Frau steht, ist durchaus ein programmatisches Statement. Das Konzert steht nämlich unter dem Motto Ein eigenes Zimmer, was auf den Essay A Room of One’s Own der Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Virginia Woolf anspielt. Zwischen den Musikstücken liest Linda Hügel zwei Kapitel aus dem Essay, die Woolfs Anliegen verdeutlichen: Was wäre, heisst es in Shakespeare’s Sister, wenn der berühmte englische Dichter eine Schwester gehabt hätte? Sie hätte aber in der patriarchalen Welt des 16. Jahrhunderts keine Chance gehabt, sich als Künstlerin zu verwirklichen, wäre ausgenützt und, so phantasiert Woolf, in den Selbstmord getrieben worden.
Eine Frau, die sich künstlerisch verwirklichen konnte, war die deutsche Komponistin Emilie Mayer. Aus ihrer Klaviersonate in d-Moll, deren Erstveröffentlichung bis zum Jahr 2017 warten musste, spielt der Pianist Carter Muller leider nur den ersten Satz. Da wäre man doch auf die Fortsetzung neugierig geworden. Interpretatorisch lässt Carters Spiel einige Wünsche offen. Wenn er die Noten weglegen würde und dynamisch mehr an die Grenzen ginge, würde diese Musik bestimmt noch gewinnen.
Mit Frauenpower hat Benjamin Brittens Streichquartett Nr. 1 in D-Dur bestimmt nichts zu tun – dass er das Werk wohl in einem eigenen Zimmer komponierte, ist ein banaler Zusammenhang mit dem Motto. Offensichtlich besteht aber ein Bezug des 1941 im amerikanischen Exil komponierten Werks zu Brittens Befindlichkeit während des Zweiten Weltkriegs. Jede Interpretation muss sich diesem Hintergrund stellen. Was das Barbican Quartett betrifft, hat man da nach dem ersten Satz gewisse Zweifel: Der erste Abschnitt, bei dem eine pizzicato gespielte Melodie des Cellos einem Klangband der drei übrigen Instrumente in den höchsten Lagen gegenübersteht, gerät zu idyllisch, zu harmonisch. Nur schon der Verzicht auf Vibrato würde da einiges ändern.
Das Allegretto gefällt besser. Auf der Basis eines stampfenden pulsierenden Rhythmus erstehen energische solistische und gemeinschaftliche Aktionen. Zum Andante calmo passt dann die Schönheit trefflich. Diese Musik spricht tatsächlich die Sehnsucht des Exilierten nach Frieden und Heimat aus. Aus dem Hauptthema heraus, das zuerst in der Bratsche erscheint, setzt das Ensemble einen Klangfluss in Bewegung, der wunderbar von Spannung und Entspannung lebt. Einen starken Kontrast dazu bildet das finale Molto vivace, das mit seinen hüpfenden Figuren nicht nur technisch höchst anspruchsvoll ist, sondern auch interpretatorisch einen Spagat zwischen Trotz und Ironie verlangt.
Die Pressereise von Thomas Schacher wurde vom Davos Festival bezahlt.