Mehr als drei Jahrhunderte sind seit der Uraufführung von Francesco Gasaparinis Opera seria Ambleto in Venedig vergangen. Derart viel Zeit, dass, außer 46 Arien von einer Londoner Aufführung im Jahr 1712, nur noch Bruchstücke überliefert sind. Unter der musikalischen Leitung von Raffaele Pe und dem von ihm gegründeten Ensemble La Lira di Orfeo, bringt das MusikTheater an der Wien nun einen Rekonstruktionsversuch des barocken Stück auf die Bühne.
Gasparinis Hamlet schreibt sich zwar ohne H, die Handlung ist aber gleichsam grausig. Genau genommen ist es sogar dieselbe. Die originalen Rezitative, welche dem Stück den sinnstiftenden Rahmen gegeben hatten, sind verloren gegangen. Das Team um Ilaria Lanzino, die für die Inszenierung verantwortlich zeichnet, hat sich deswegen frei bei Shakespeare bedient. Das geht so weit, dass selbst die Namen der sechs Protagonisten des Stückes an die englische Version angeglichen wurden.
Und so stehen neben Ophelia und Gertrude, auch Hamlet, Laertes, Claudius, und Polonius auf der Bühne. Nach gut zwei Stunden werden die Männer alle Tod sein. Denn bei aller Ähnlichkeit verrät das Programmheft dem geneigten Hobby-Philologen, dass Gasparinis Librettisten-Team, bestehend aus Apostolo Zeno und Pietro Pariati, sich lediglich auf die gleichen Quellen wie Shakespeare stützten. Beide bedienten sich recht frei an der Gesta Danorum aus dem Jahr 1200.
Doch während Shakespeare Verrat und Intrige zum Kern seines weltberühmten Stück machte, geht es bei Gasparini nur um einen Sohn, der den plötzlichen Tod seines Vaters nicht verarbeiten kann. Die Welt um ihn herum dreht sich weiter, seine Mutter heiratet erneut, doch Ambleto/Hamlet hat mit dem Gestern noch nicht abgeschlossen. Und so fallen, Schritt um Schritt, erst Polonius, bald aber auch Claudius und Laertes seinem blutdürstendem Beil zum Opfer.
Am Ende wird Ophelia den entrückten Hamlet ihrerseits mit einem Küchenmesser von seiner Pein erlösen. Nur sie und Hamlets Mutter werden das Familiendrama überleben. Oder auch doch nicht? Bevor sich der Schlussvorhang senkt, wacht sie, blutüberströmt, in einer Badewanne auf.
Vom vielen Blut abgesehen, setz Ilaria Lanzino in dieser Inszenierung auf bewährte Konzepte. Auf der Bühne dreht sich ein modernes Haus aus Holz und Glas. Der Zuschauer wird zum ultimativen Voyeur degradiert. Doch so wie der hellhörige Nachbar über den Zaun auch nicht jedes Detail mitbekommt, so bleibt auch in dieser Inszenierung einiges unklar.
Nicht zuletzt liegt das an den wenig sinnstiftenden Arien. Jeweils spärliche vier Zeilen aus tragischen Allgemeinplätzen kolportieren im Grunde nichts – noch dazu, da Teil der Londoner Aufführung 20 Kofferarien sind (13 sollen von Carlo Francesco Pollarolo übernommen sein). Handlung oder Worthülse? Das ist hier die Frage!
Und so ist es umso bemerkenswerter, dass es Ilaria Lanzino am Ende durch den Einsatz von vertrauter Szenerie und wohlplatzierte Regieanweisungen doch gelingt, einen durchgehenden Handlungsstrang aufzubauen. Freilich, bei all dem Blut, Todschlag, und Vergewaltigung, wird dem Zuschauer schon einiges zugemutet. Nicht immer möchte man direkt hinschauen, doch am Ende bleibt es stringent.
Musikalisch bleibt der Abend dennoch eher eine Kuriosität, als ein echter Höhepunkt. Am Pult steht nicht etwa Raffaele Pe, der singt nämlich selbst auf der Bühne – manchmal etwas zu forciert und mit wenig Tiefenwirkung – den Hamlet. Nein, Konzertmeisterin Elisa Citterio gibt stehend den Takt an, als wäre sie ein moderner Strauss.
Die Musiker des La Lira di Orfeo haben sichtlich Spaß an dem Stück, und schaffen es durch tragische und komische Übertreibungen, den barocken Vorlagen einen angenehm beschwingten modernen Touch zu verleihen. Doch trotz dieses engagierten Einsatzes, kann das Ensemble nicht darüber hinwegtäuschen, dass Gasparinis Stück nicht grundlos von den Spielplänen verschwunden ist.
Stimmliche Glanzlichter im barocken Einheitsbrei schafft es vor allem Erika Baikoff als Ophelia zu setzen. Insbesondere Ana Maria Labin als Hamlets Mutter Gertrude überzeugt durch fragile Sinnlichkeit und schmerzverzerrtes Wärme. Maayan Licht lässt als Laertes mit seinem angenehm klaren und jugendlichen Countertenor zeitweise die Frage aufkommen, ob er nicht wohl die bessere Hauptbesetzung gewesen wäre. Gleichwohl sorgt sein geckenhaft überdrehtes Spiel zwar für Lacher im Publikum, will aber nicht immer ganz zur eigentlichen Tragik der Handlung passen. Sowohl Miklós Sebestyén als Claudius, als auch Nikolay Borchev, als Polonius, schlagen sich tapfer, die Highlights bleiben aber aus.

Insgesamt steht an diesem Abend klar das Interesse an so einem in Vergessenheit geratenen Stück im Vordergrund. Zieht sich der erste Teil noch zäher als Kautschuk, fügen sich die Fragmente dann nach der Pause, wenngleich etwas brachial, wie ein Puzzle zusammen. Wer ein modernes Theaterstück mit barocker Musikuntermahlung erwartet, der wird sicherlich nicht enttäuscht.