Im März hatte Joyce DiDonato, diese Saison Curating Artist des Konzerthauses Dortmund, ihre Programmwoche mit Orchester-, Chor- und Liedkonzerten über mehrere Jahrhunderte Musik sowie einer Masterclass und einem Gesprächsformat gestaltet. Etwas Barockes allerdings fehlte dabei, zunächst, sollte es nämlich sinnfällig koordiniert mit der Tournee des mit ihr verbundenen Ensembles il Pomo d’oro, das vor wenigen Wochen zu DiDonatos Residenz sein Debüt vor Ort gab, jetzt zum – sprichwörtlich krönenden – Abschluss stattfinden.

Im Wege der Einspielung Händels dramatischer Werke für DiDonatos Vertragslabel war nun das letzte neue, trotz der einsetzenden Erblindung vollständig vom Komponisten gefertigte Oratorium Jephtha an der Reihe, dessen „Scenes of Horror“ es vormals schon ins Album War & Peace der Mezzosopranistin geschafft hatten. Das Stück beinhaltet natürlich auch Rückgriffe auf Früheres und musikalische Anleihen bei anderen Notensetzern, diesmal aber nicht, wie bei Beispielen davor, solche Giacomo Carissimis 100 Jahre zuvor vertonter biblischer Story um Jephte. Jener Israelit schwört vor Gott, die erstgesichtete Person nach seiner Rückkehr aus der Schlacht gegen die barbarischen Ammoniter für seinen Sieg und die Rettung des Volkes zu opfern.
Das Schicksal schlägt bei Jephthas Tochter Iphis zu, die bei aller bewundernswerten Fügung im Geschehen Händels Librettisten Thomas Morell jedoch nicht sterben muss. In spätbarocker Happy-End-Tradition verkündet ein Engel ihre Verschonung, allerdings mit der erheblichen Einschränkung, fortan jungfräulich weiterzuleben. Die ehrfürchtige Einstellung, Gottes Plan so hinzunehmen, weist kuriose Parallelen zu Händels Ethos auf, stellte er sich mit allen Gebrechen in den Dienst der Musik. Verblüffend, dass ihm ausgerechnet beim Chor „How dark, O Lord, are thy decrees“ kurzzeitig aufgrund eingangs genannten Sehverlusts die Kraft ausging, ehe er das Werk am 30. August 1751 vollendete.
Vor Kraft strotzte dagegen Michael Spyres als eidtreuer, mühelos seine anführende Kampfes- und Heldenvirilität ausstrahlender sowie verständliches Wort und präsente Verpflichtung Gewicht verleihender Jephtha. Dass sein Zungenschlag beim fülligen Volumen seines hellen, großen, vorderen Tenorumfangs mit bewusstem Baritoneinsatz dabei nicht in derberes Schreien ausartete, verdankte er seiner abfedernd weichen Grundtimbrierung, die am allerbesten bei mezzo- und piano-lichterer Verzweiflungs- wie stolzer Abschiedsreaktion auf den Todesrealismus seiner Tochter zur Geltung gelangte. DiDonato als zunächst immens besorgte, dann im Unverständnis und Schock wütende, letztlich erlöste Jephtha-Gattin Storgè lagen die Arien, vor allem beim nachdenklichen Ausdruck in introvertierterer Manier, selbst stilistisch mit bedachterer Kontrolle sowie davon profitierender Deutlichkeit und Affektübersetzung eindeutig genehmer als manch unebene Rezitative bei aufreibend Durchwirktem.
Mit noch mehr Farbtiefe und insgesamt barockassimiliert ausgewogener als DiDonato konnte – freilich auch rollenbedingt – Alt Jasmin White im stimmigen Ausdrucks- und Engagementpaket mit dem Orchester als sehnsüchtiger wie resoluter Hamor, Iphis‘ Geliebter, auftreten. Zwar war in warmer Tongebung ein amerikanischer Akzent minimal durchhörbar, dessen Eigenart beim sonoren Cody Quattlebaum als Jephthas Gen- wie ernst-grimmiger Waffenbruder Zebul trotz diktionaler Anstrengung zu etwas ziehender, heißluftiger Bariton-Knödelerie beitrug, doch erwiesen sich Whites vokalpaarigen Glücksbündel-Duette mit Mélissa Petit in Iphis' Person als die Glanzpunkte. So wie Petits Soli an sich, dabei wartete sie mit stärkerem Vibrato auf, allerdings im feinen Stimmmuster und in allgemeiner, beweglicher, exakt ziselierender Artikulation äußerst versiert. Schließlich demonstrierte sie in zärtlicher Ergebung und Demut mit entzückend pittoresken Höhen ihre weiche, herzzerreißende Stärke, die wirkte, als sei sie schon selbst der Engel.
Der hatte in Anna Piroli einen edlen, leichten, als Barockexpertin wohltuend klaren Sopran, der ansonsten im Chor il Pomo d’oros zu Volkes Stimme sang, den Tenor Giuseppe Maletto gewohnt prächtig und homogen, flexibel im Beteiligtendrama, in Trauer und im hymnischen Kommentar, Gebet und Dank sowie dynamisch höchst gehaltvoll, allein im deklamatorischen Vergleich zum elektrisierenden Akzentbiss des Orchesters noch ein kleines bisschen Luft nach oben einstudierte. Instrumentalensemble und immer wieder beeindruckend detaillesender Dirigent Corti be(s)tätigten sich als charaktervoll raumgreifende, theatralisch versessende, robuste, kontur-, phrasierungs- und kontrastbombastische, rhythmische Powerbank und Benchmark in Sachen Barock.