Spätestens seit ihrem letzten Plattendokument Anne Boleyn's Songbook geht mir Alamire nicht mehr so richtig aus dem Kopf. Im Wissen um die Rarität der in Deutschland zu erhaschenden Auftritte dieses von David Skinner zusammengestellten und geleiteten Ensembles konnte ich nur zaghaft ein baldmögliches Live-Konzert erhoffen. Mir und den vielen anderen Interessierten bot nun das Kölner Fest für Alte Musik die Gelegenheit, die A-cappella-Crew im Rahmen des Abschlusskonzerts zu bestaunen.
Im Mittelpunkt der künstlerischen Betrachtung stand das aus dem Hundertjährigen Krieg stammende Kampflied L'homme armé, ein mottogetreuer „Hit“, der von vielen Komponisten der Zeit als Cantus firmus vertont und nun in der essayistischen Politik-Gegenwart und der Auseinandersetzung der belebten Musikgeschichte genreübergreifend näher beleuchtet wurde. Die Aufmerksamkeit teilten sich die Sängerinnen und Sänger dabei kurz mit der Schriftstellerin Jutta Heinrich, die mit einem Text die Vertonungen von Josquin Desprez und Giovanni Pierluigi da Palestrina umkleidete.
Mit dem multiperspektivischen Titel Einschlag der Stille schickte Heinrich in der Markanz einer feministischen Literaturstimme einen gesellschaftspolitischen Weckruf aus, dem heutigen „bewaffneten Mann“ nicht sprachlos und erschüttert gegenüber zu stehen. Sie tat dies in einer Erzählung einer Prostituierten, die in endlichster Ausgeliefertheit in der Blutlache ihres Schädels auf der Straße lag, Reeperbahn-Kolleginnen um sie herum und die Schar der Männer, die im feigen Ausmaß des Zu-spät mit der Offensichtlichkeit konfrontiert wurden. In der Eindrücklichkeit dieser Kurzgeschichte gelang der Verfasserin ein kämpferisches, gedankenprozessuales, umgreifendes Statement in vielfachem Umgang und Deutung von Schuld, Gewissen und Verantwortung, und das so sehr, dass mir mit der wie auch immer gearteten Gewalt gegen Frauen selbst Anne Boleyns Schicksal wieder in Erinnerung kam, das leider die verachtende Beständigkeit des Themas hervorrief.
Den großen musikalischen Rahmen des Abends bildeten die Solisten Alamires mit beeindruckender Intensität und Harmonie, von Anfang bis Ende, ob punktgenau in jeglichen Einsätzen der zu zweit besetzten Stimmgruppen oder den dynamisch-deklamatorisch spannenden Belichtungen des Tuttis. Nach der Vorstellung des thematischen Chansons durch die zuverlässigst sonoren, ensemblegetrimmten Bässe William Gaunt und Greg Skidmore füllten alle vibratofreien Stimmen mit Josquins Missa L'homme armé (sexti toni) die Trinitatiskirche, strikt in der Linie der Hochrenaissance, angereichert durch betonte An- und Abschweller, jede Lage in ihrer Wortführerschaft herausgestellt. Mussten sich darin zu Anfang die Tenöre noch ein wenig einfinden, löste sich dieses minimalste Anzeichen von Menschlichkeit im satten Himmelsklang der Perfektion auf, der im Gloria mit einem energischen Amen mündete. Machten noch mehr Phrasierungswellen und Akzentuierungen der aufsteigenden Linien von sich hören, vernahm man im weicheren, wärmeren Qui tollis der Sequenz auch die detaillierten, farbigen Nuancen, mit der Skinner die Musik lebendig gestaltete.