Wenn Christian Thielemann an der Wiener Staatsoper dirigiert, strömt das Stammpublikum ins Haus wie die Katholiken zur Papstmesse. Wenn dann noch Günther Groissböck die groben Stiefel des Ochs auf Lerchenau gegen eine Papstsoutane und ein paar salbungsvolle wie stimmlich beeindruckende Worte tauscht, werden auch schwer zugängliche Werke wie Hans Pfitzners Palestrina zum Kassenschlager.

Michael Spyres (Palestrina) und Kathrin Zukowski (Ighino) © Wiener Staatsoper | Michael Pöhn
Michael Spyres (Palestrina) und Kathrin Zukowski (Ighino)
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Palestrina (Entstehungsjahr 1915) ist die künstlerisch freie Vertonung einer Legende, wonach in der letzten Sitzung des Konzils von Trient (1563) das Verbot der polyphonen Kirchenmusik diskutierte wurde, da die Vielstimmigkeit der Deutlichkeit von Gottes Wort nicht mehr gerecht wurde; erst durch Palestrinas Missa Papae Marcelli soll der einflussreiche Kardinal Carlo Borromeo seine Meinung geändert haben. Pfitzner sah in dieser Legende wohl eine Analogie zu einer weiteren Zeitenwende der Musik, an der er sich selbst befand, und in welcher er als angriffslustiger Kontrahent von Alban Berg auftrat. Es liegt daher nahe, Palestrina als Manifest von Pfitzners konservativen musikalischen Überzeugungen und Synthese der ihn prägenden Einflüsse zu lesen.

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Michael Laurenz (Bernardo Novagerio) und Wolfgang Koch (Carlo Borromeo)
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Da Carlo Borromeo bei Pfitzner den rund vierzigjährigen römischen „Altmeister“ Palestrina dazu nötigt, eine Messe zu komponieren, die das Problem von Wort und Musik lösen soll, kann man ihn als eine Art Gurnemanz sehen, der seinen Palestrina-Parsifal anleitet, die Welt vor den Zwölfton-Ketzern zu retten, was auch den Papst beeindruckt. Man kann auch eine verdrehte Form der Meistersinger erkennen, in welcher die Merker als Konzilsteilnehmer über das Gute, Wahre und Schöne streiten, und Hans Sachs mit der Tenorstimme von Stolzing siegt.

Daher werden jene, die im Gezänk der Merker den Höhepunkt der Meistersinger sehen, und die dem knapp dreißig Jahre später komponierten Capriccio auch ohne Mondscheinmusik und Gräfin die Treue halten würden, an Palestrina Gefallen finden. Es hilft auch, wenn man klerikal auf phänomenal reimen kann und im festen Glauben lebt, dass Raritäten wie Palestrina notwendig waren, um Meisterwerke zum Thema Wort und Musik (wie eben Capriccio oder auch Hindemiths Mathis der Maler) entstehen zu lassen.

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Günther Groissböck (Papst Pius IV)
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Wer sich hier nicht angesprochen fühlt, wird zumindest das filmmusikartige Vorspiel zum ersten Akt, dessen monumentales Finale oder die spannungsgeladene Rhythmik des Vorspiels zum zweiten Akt genießen. Auch die Charakterisierung von Gegensätzen mit Quarten und Quinten, die die Spannung halten, ist bestechend. Dies ist in der szenischen Ödnis der Inszenierung von Herbert Wernicke auch dringend nötig. Dieses Werk schreit nämlich nach einer Überzeichnung des kirchlichen Bühnenpersonals, das Pfitzner mit spitzer Feder charakterisiert hat, und das Wernicke anno 1999 viel zu harmlos umgesetzt hat, obwohl die Vita der Renaissancepäpste Inspiration genug geboten hätte.

Die Bühne beeindruckt zwar mit einer bühnenraumhohen Wandvertäfelung und zeigt den Chor hinter einer sich mittig öffnenden Orgel, doch beschränkt sich die Personenregie für die 39 solistischen Rollen auf Banalitäten: Patricia Nolz muss etwa als Palestrinas Schüler Silla so tun, als spielte sie Violine, und das wirkt buchstäblich vergeigt. Doch das schmälert ihre Leistung nicht, und das Zusammenspiel mit der ihr ebenbürtigen Kathrin Zukowski als Ighino bildet am Beginn des ersten Akts ein mehr als kompetentes Handlungsexposé.

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Wolfgang Koch (Carlo Borromeo) und Michael Spyres (Palestrina)
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Der unumstrittene Höhepunkt dieses Akts und des gesamten Werks ist jedoch der große Auftritt von Michael Spyres in der Titelpartie, den man nur als hochklassig beschreiben kann. Mit seiner perfekten Diktion und stets treffendem Ausdruck lässt er völlig vergessen, dass das Schreiben einer Messe in einer einzigen Nacht kein besonderes szenisches Erlebnis ist, auch wenn ihm Borromeo den Schreibstift überreicht, als wäre er Nothung das Schwert. Klugerweise stellt Pfitzner seinem Musikhelden reichlich Bühnenpersonal zur Seite, um seine inneren Stimmen und Inspirationen zu zeigen – als alte Meister der Tonkunst, Engel, und Palestrinas verstorbene Frau Lukrezia. Als letztere sorgt die bestens disponierte Monika Bohinec in einem roten Abendkleid für den einzig weiblichen Glanzpunkt.

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Adrian Eröd (Graf Luna), Wolfgang Bankl (Madruscht) und Michael Kraus (Kardinal von Lothringen)
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Die größeren Solistenpartien sind auch abseits von Günther Groissböck als Papst Pius IV bestens besetzt, und dies ist insbesondere für den zweiten (Konzil-)Akt mit seinem lateinisch-vatikanischen Wagnerianisch unabdingbar. Wolfgang Koch stellte den kunstaffinen Carlo Borromeo glaubwürdig dar und zeigte eine gute Höhe, auch wenn die Tiefe noch etwas von einer Erkältung beeinträchtigt schien. Einen großen Auftritt hatte auch der Charaktertenor Michael Laurenz, an dessen Bernardo Novagerio deutlich wird, dass die wichtigsten politischen Entscheidungen schon immer abseits der offiziellen Verhandlungen stattfanden. In der kleinen Rolle des Bischofs von Budoja ließ mit Matthäus Schmidlechner ein weiterer Charaktertenor aufhorchen, der das bariton- bis basslastigem Gezänk (etwa Clemens Unterreiner als Ercole Severolus, Adrian Eröd als Graf Luna, Wolfgang Bankl als Madruscht) gefällig kontrastierte. Etwas blass blieb Michael Nagy als Morone, obwohl man vermuten kann, dass sich Pfitzner in dieser Figur – neben Palestrina und dem Papst – als eher laute denn leise Stimme der Vernunft wiederfinden wollte.

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Michael Spyres (Palestrina)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Dass Thielemann Weltmeister im deutschen Meisterfach ist, braucht nicht extra erwähnt zu werden, und dennoch staunt man über den Aufbau der grandiosen Tutti, die subtilen Phrasierungen und die Raumwirkung des Orchesterklangs. Dass er sich auch von Krücken nicht bremsen lässt, ist für das Werk, alle Beteiligten und das Publikum geradezu ein Liebesbeweis.

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