„Oper in drei Akten von Henry Purcell“, so wird die Produktion auf der Website des Theaters Basel angezeigt. Was man dann bei der Premiere zu sehen und zu hören bekommt, stammt aber nicht einmal zur Hälfte vom berühmten englischen Barockkomponisten. Den größeren Teil der Musik hat der japanische Komponist und Gambist Atsushi Sakai ad hoc neu geschrieben. Zudem läuft auf der Bühne neben der bekannten Liebesgeschichte zwischen der karthagischen Königin Dido und dem trojanischen Kriegshelden Aeneas eine Parallelhandlung ab. Diese wird nicht von den singenden Hauptfiguren, sondern von den Mitgliedern einer Tanztheatertruppe dargestellt.
Die Basler Dido and Aeneas-Fassung – eine Produktion des Grand Théâtre de Genève aus dem Jahr 2021 in Koproduktion mit der Opéra de Lille und den Théâtres de la Ville de Luxembourg – ist der Versuch, diese alte Oper einem heutigen Publikum schmackhaft zu machen. Das Resultat: gleichzeitig genial wie problematisch. Die Stärken sind gleichzeitig die Schwächen. Doch der Reihe nach.
Das Geniale an dieser aufgepeppten und erweiterten Dido-Story liegt in der Mitwirkung der belgischen Tanztheater-Compagnie Peeping Tom. Regie führt deren Mitbegründer Franck Chartier. Die acht Performer verdoppeln einerseits die Sängerrollen, stellen andererseits erfundene Nebenrollen dar. Die Hauptfigur Dido wird also einerseits von der Mezzosopranistin Marie-Claude Chappuis, andererseits von der Tänzerin Eurudike De Beul dargestellt. Und den Aeneas verkörpert sowohl der Tenor Ronan Caillet als auch der Darsteller Romeu Runa. Auch Didos Gefährtin Belinda erscheint als Doppelrolle.
Während die Gesangsrollen die Liebesgeschichte in der überlieferten Weise besingen, bringen die Mitglieder von Peeping Tom eine ganz andere Wirklichkeit ins Spiel: Eurudike de Beul mimt eine reiche, in die Jahre gekommene englische Witwe, die sich in ihren Wahnvorstellungen mit Dido aus Purcells Oper identifiziert. In ihrer Einsamkeit und unerfüllten Liebessehnsucht radikalisiert sie sich zusehends und reißt am Schluss alle in eine Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes. Chartier zeichnet mit Hilfe seiner Tanztruppe in erster Linie ein Psychogramm dieser modernen Frau, während die Sängerfiguren in seiner Personenführung zu kurz kommen.

Die Bühne von Justine Bougerol stellt ein großbürgerliches Interieur dar. Rechts befindet sich ein raumgreifendes Doppelbett, darüber ein überdimensionales Portrait von Didos verstorbenem Ehemann. In diesem Bett ereignet sich beispielsweise eine nicht jugendfreie Szene, wo die Peeping-Dido den Peeping-Aeneas zum Beischlaf mit der Peeping-Belinda zwingt. Als Zuschauer kommt man sich da unwillkürlich wie der Voyeur in einer Peepshow vor. Auf der linken Seite der Bühne steht ein Salontischchen mit Polstersesseln, wo beispielsweise der auf Dido wartende Purcell-Aeneas von einer Peeping-Dienerin angemacht wird. In den Kostümen trennt Anne-Catherine Kunz klar zwischen den klassischen Kleidungen der singenden Protagonisten und den schrägen Outfits der Tanztruppe, die am Schluss zugunsten von kaum verhüllten Adam- und Evakostümen ausgetauscht werden. Die obere Etage des herrschaftlichen Interieurs ist für den Chor des Theaters Basel bestimmt. Die Sängerinnen und Sänger geben sich als Mitglieder eines imaginierten House of Lords aus und applaudieren der Witwe, die hier als Möchte-gerne-Queen eine Thronrede hält.
Die Schweizerin Marie-Claude Chappuis, bei der Premiere erklärtermaßen indisponiert, hält sängerisch bis zum Schluss tapfer durch. Während sie als Dido den melancholischen Charakter dieser Rolle einfühlsam realisiert, vermag sie in den ebenfalls verkörperten Rollen der Zauberin und des fingierten Merkur zu wenig Kontraste zu zeigen. Der zum Ensemble des Theaters Basel gehörende Ronan Caillet gibt mit seinem lyrischen Tenor und seiner Sensibilität den Aeneas weniger als Kriegshelden denn als Opfer widriger Umstände. Und die isländische Sopranistin Álfheiður Erla Guðmundsdóttir verpasst Didos Gefährtin Belinda einen zupackenden bis intriganten Charakter.
Während in Genf Emmanuelle Haïm das Ensemble Concert d’Astrée leitete, dirigiert in Basel Johannes Keller das La Cetra Barockorchester Basel. Die von Purcell komponierten Teile von Dido and Aeneas werden durch die Mitglieder dieses Originalklangensembles frisch und, insbesondere in den generalbassbegleiteten Partien, sehr farbig umgesetzt. Etwas mehr dramatisch geprägte Ausbrüche wären an gewissen Stellen aber noch möglich. Neben Keller steht im heraufgefahrenen Orchestergraben Atsushi Sakai, der die von ihm komponierten Abschnitte selber dirigiert. Sakais Klangsprache unterscheidet sich von jener Purcells radikal, orientiert sich etwa an Bernd Alois Zimmermann, Earl Brown, John Cage, den amerikanischen Musicals oder gar am japanischen Nō-Theater.
Wegen des schon erwähnten zeitlichen Übergewichts der neu komponierten Teile erscheinen die originalen Teile der Purcell-Oper oft bloß als deren Unterbrechungen. Sollte nicht sein. Ein ähnliches Phänomen stellt sich auch auf der szenischen Ebene ein: Die von der Peeping-Tom-Truppe in Gang gesetzten Ereignisse der Sekundärgeschichte fesseln einen derart, dass das Interesse an der primären Geschichte erlahmt. Wenn am Schluss nach den apokalyptischen Tänzer-Szenen der in Todeszuckungen sich wälzenden Liebespaare die Purcell-Dido an die Rampe tritt und ihren Abschiedsmonolog „When I am laid in earth“ singt, entfaltet dies keine Wirkung. Und man blickt gespannt auf die in ihrem Bett liegende nackte Peeping-Dido, die von der Peeping-Belinda für den Tod vorbereitet wird.
Thomas Schachers Reisekosten von Zürich nach Basel wurden vom Theater Basel bezahlt.