Ein Brahms-Requiem kommt selten allein. Nicht bezogen auf seine Stellung im abendlichen Programm, in dem es – mittlerweile definitiv rarer der Fall – tatsächlich das einzig aufgespielte Werk sein kann. Sondern hinsichtlich des anzutreffenden Umstandes, dass es innerhalb einer komprimierten Zeit im Konzertkalender neben seiner allgemeinen Regelmäßigkeit auffällig oft erscheint.

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Philippe Herreweghe
© Oliver Hitzegrad

Normalerweise trägt sich dieser im Trauermonat November zu, doch ist es diesmal auch der Februar mit seinem Beginn der Passionszeit, in dem das Stück just sogar von drei Größen der historischen Aufführungspraxis erklingt. Von Sir John Eliot Gardiner in Amsterdam zum Bonus letztjährig abgeschlossenen symphonischen Brahms-Zyklus beim Concertgebouw, von Thomas Hengelbrock, bei dem es in genannter Ausnahme nur für sich steht, und von Philippe Herreweghe. Auch er befindet sich weiterhin in jedem Jahrzehnt neu angesetztem Brahms-Durchgang, natürlich mit seinem Orchestre des Champs-Élysées, dem ich – nach stetem Lauschen in Essen – im Konzerthaus Dortmund zuhörte, wo er seit wenigen Jahren jetzt ebenso regelmäßig Station macht.

Dem Requiem vorangestellt hat er dabei Schuberts Unvollendete. Ein klassisches Pairing bei Bedacht des die Nachwelt umrankenden Schicksalshaften und – wie beim Requiem – Konventionsaufbrechenden um Schuberts Zweisatzsymphonie, die Brahms in deren zweitem Zweifel-Entwurf in E-Dur nach den Skizzen einer D-Dur-Symphonie erst vervollständigen wollte. Eben einer Nachwelt, deren Beschäftigung mit Schubert überhaupt unter anderem Brahms' In Memoriam an seinen geschätzten Wiener Vorgänger zu verdanken ist. Wie bei Herreweghe üblich, befreite der Flame diese sonst nun einmal gerne aufgeladene Siebte Symphonie von jeglichem dunklen, ab und zu blümerant wirkenden Gestrüpp. Statt eines Schattens wuchernden Pathos, lag in ihr viel eher das aus sich, der milderen Klanggebung und Phrasierung heraus strahlende Licht feinerer Poesie. Dieses erleuchtete stimmig den bereits helleren affektiven Gestus des vorwegnehmenden, aufbauenden Trosts des Deutschen Requiems. Immer wieder ein Wunder zu beobachten, wie die Musiker des Orchestre des Champs-Élysées bei aller Erfahrung doch ebenfalls zwangsläufig mit manch neuen Gesichtern an Mitgliedern Herreweghes eigenwilligsten Zeichen punktgenau in den Tuttiakkorden Schuberts Unvollendeter abnahmen.

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Florian Boesch
© Oliver Hitzegrad

Daran änderte sich zudem – darüberhinaus dann für den Chor gesprochen – im Requiem so gut wie nichts. Bestachen vor allem Hörner, Klarinette oder Georges Barthels Flöte, verdiente sich auch Emmanuel Laporte an der Oboe eine Extraerwähnung. Mit seinen Bläser- und Streicherkollegen verlieh er an traditionell herausgehobener Stelle dem Requiem vorzüglich Herreweghes Schlank- und Klarheit, aus denen Trauer und Trost besonders glaubwürdig, zuversichtlich und eben der Realität zugewandt schienen, ohne die Anrührigkeit allzu sehr unter den Tisch zu kehren. Es ist das Tonverständnis – außerdem mit vom Komponisten gewünschten harten Paukenschlägeln – aus dem barocken Vorbild, dem auch teilweise Brahms durch Schütz und Bach nachhing und das in den ersten beiden Sätzen mit fast klinischer Akkuratesse durchkam. Darin formierte sich Herreweghes 43-köpfiges, prächtiges Collegium Vocale Gent als sanfte, verlässliche, haltende Hand, die einen leichteren Schrittes durch das tränende Tal des Todesschmerzes, erst recht in schmackhaft gemachter Erlösungshoffnung der Freudenfuge, waten ließ.

Regula Mühlemann © Oliver Hitzegrad
Regula Mühlemann
© Oliver Hitzegrad

Sie schließt in anderer Form ebenfalls den dritten und sechsten, durch Einbau des Basssolisten jeweils romantikoratorischen, dramatischen Satz ab. Florian Boeschs – zwar gewohnt deklamatorisch und stimmlich durchaus eindrucksvolle – kernige Theatralik und Wucht im Sich-der-Furcht-stellen wollte darin aber nicht so wirklich zu Herreweghes Vorstellung passen, zumindest hielt ihn offenbar nichts von einer Übersteigerung ab. Ebenso wenig wie den engagierten Tenor im Chor, der im Forte dann härtlicher heraushörbar war. Wie mustergültig kontrolliert und einfügend es ging, zeigte Sopransolistin Regula Mühlemann im „Ihr habt nun Traurigkeit“, in dem ihre Farbwärme mit blitzender Höhe legatorund mit dem CVG-Chor die mütterlich-liebliche, balancierte Aufgehobenheit in vokaler Person darstellte. Mit finalem Abschied „Selig sind die Toten“ nicht allein gefeiert entlassen, fand sich unsereins gestärkt für die heutige Nachwelt, der Zeit täglichen Schicksals.

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