In der Historie großer Symphonieorchester der vergangenen 100 Jahre gibt es etwa ein Dutzend Fälle, bei denen ein Chefdirigent das Orchester auf ein derart höheres Qualitätsniveau geführt hat, dass nachhaltig der Sprung in eine neue Liga der Orchesterklasse gelang. Dazu zählen natürlich die kongeniale Verbindung von Herbert von Karajan und den Berliner Philharmonikern, aber auch die Arbeit von Simon Rattle mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra, sowie die Ära Sergiu Celibidaches bei den Münchner Philharmonikern, um nur einige Beispiele zu nennen. In vielen dieser Fällen erlangte nicht nur das Orchester Weltrang, sondern auch der Dirigent wurde dadurch in der Klassikszene weltberühmt.
Der 36-jährige amerikanische Dirigent Ryan Bancroft ist zwar noch immer nur eingefleischten Orchesterliebhabern ein Begriff, aber das dürfte sich bald ändern. 2023 wurde er Chefdirigent des Royal Stockholm Philharmonic Orchestra. Im Rahmen der ersten gemeinsamen Europatournee gaben sie nun eines der ersten Konzerte in der Münchner Isarphilharmonie gemeinsam mit der ebenfalls am Beginn einer großen Karriere stehenden Violinsolistin Maria Ioudenitch.
Das Konzert wurde eröffnet mit einem zeitgenössischen Stück der schwedischen Komponistin Andrea Tarrodi. In ihrem 2012 entstandenen Stück Liguria unternimmt Tarrodi einen musikalischen Spaziergang durch fünf kleine Fischerdörfer am Ligurischen Meer. Von der azurblauen See über Sonnenanbeter am Strand bis hin zum sternenerfüllten Firmament kreiert Tarrodi Stimmungen und Bilder mithilfe ausgefeilter kompositorischer Kunstgriffe. Flirrendes Tremolo in den Streichern, auf denen sich die Bläserwellen Riomaggiores türmen; Röhrenglocken, die den Kirchturm von Manarola ertönen lassen; spitze Harfentöne in einem Zwiegesang der Xylophone und am Ende gar eine moderne Glasharfe, bei der Stäbe in Röhren eingeführt werden und den sphärischen Klang des Nachthimmels in Corniglia auf die Bühne zaubern. Dass Bancroft ein ausgesprochener Liebhaber und Kenner zeitgenössischer Musik ist, war offensichtlich. Er navigierte die hochkonzentrierten Orchestermusiker souverän durch die rhythmisch und klanglich vertrackten Passagen und Übergänge und gab sowohl präzise den Hauptschlag als auch notwendige und oftmals gegenläufige Impulse für einzelne Solisten und Instrumentengruppen.

Die 1995 in Balashov, Russland geborene Geigerin Maria Ioudenitch interpretierte mit dem Violinkonzert von Jean Sibelius einen Klassiker der Sololiteratur. Bereits in der Anfangspassage, zweifellos eine der schönsten Einleitungen des gesamten Violin-Repertoires, wurde die Qualität des Spiels der jungen Geigerin deutlich: Unruhig lodernd, immer wieder wild aufflammend und intensiv gespannt bis zum Zerbersten. Statt abgeklärt und meditativ ruhend, wie man diese Anfangspassage zumeist geboten bekommt. Ioudenitch spielt auf einem solch hohen künstlerischen Niveau, dass ihre Deutung nicht nur ernst genommen, sondern bewundernd anerkannt werden muss. Musik lebt schließlich von Spannung, von energetischer Verdichtung und davon, den Zuhörer mitzunehmen und nicht einfach nur zu berieseln.
Ioudenitch ist grandios im Aufbauen von Spannung und Intensität, in der unbedingten Gestaltung jeder Phrase, jedes Motivs, jedes Tons, bis hin zur nanometergenauen Wahl der Stelle, an der der Bogen die Saiten zwischen Griffbrett und Steg berührt. Derart dicht zelebriert sie diese musikalische Miniaturmalerei, dass ihr hin und wieder der Gesamtzusammenhang entgleitet. An einer Stelle im dritten Satz verlor sie gar gänzlich den Konzentrationsfaden und schwamm für einige Takte an einer vergleichsweise einfachen Stelle. Das tat aber dem Gesamteindruck dieses Danse macabre keinen Abbruch. Ioudenitch ging volles Risiko, kontrollierte zwar das Tempo, zog aber bei der Bogentechnik alle Register. Die Terzenstaccati im dritten Satz spielte sie so knackig und harsch, dass einem Schauder der Wonne über den Rücken liefen. Dass sie auch Gelassenheit und Ruhe beherrscht, demonstrierte Maria Ioudenitch dann bei ihrer herrlichen Zugabe, der siebten Fantasie von Telemann, bei der sie auch virtuos den Barockbogen zum Einsatz brachte.
Für Tschaikowsky Fünfte Symphonie hatte Bancroft akribisch mit dem Orchester gearbeitet. Die Symphonie gelang perfekt, die großen Bögen als auch fein herausziselierte Details wie beispielsweise die trickreichen Spiccato-Läufe im Walzer im Wechselspiel mit den Holzbläsern. Das Thema des zweiten Satz spielte der Solo-Hornist Martin Schöpfer mit majestätischer Ruhe und großem Ton und auch die anderen Bläser-Gruppen taten es ihm nach, besonders zu erwähnen die Trompeten und Posaunen im vierten Satz. Die Begeisterung der Musiker*innen entlud sich in einem mitreißenden Finale, gefolgt von tosendem Beifall. Dass sich die Musiker*innen vor dem Verlassen der Bühne umarmten und nicht nur die Hände schüttelte, unterstrich die außerordentlich homogene Gemeinschaft und den Teamgeist eines Orchesters, von dem man nicht genug bekommen kann.
Das Konzert wurde von MünchenMusik veranstaltet.