Über Innovation wird viel gesprochen dieser Tage. Innovationen benötigen wir, um das Klimaproblem zu lösen, und Künstliche Intelligenz wird unser Leben im Guten wie im Schlechten zukünftig noch mehr beeinflussen als ohnehin schon. Dass Innovation aber allerorten ausgerechnet in einem Bereich entsteht, der weit überwiegend von der Interpretation der Werke längst verblichener kreativer Geister lebt, ist verblüffend und erquicklich zugleich. Die Rede ist vom Genre der Klassischen, also der in Schriftform präzise verfassten Musik, und hier speziell der Kammermusik. Das Danish String Quartet gehört seit seiner Gründung vor mehr als 20 Jahren zu einer Reihe von Streichquartetten des neuen Jahrtausends, die nicht nur zeitgenössische Werke als natürlichen Teil ihrer Programmatik verstehen, sondern auch die Klassiker der Kammermusikliteratur neu interpretieren. Die vier Musiker bringen zudem regelmäßig eigene Arrangements skandinavischer Folklore auf die Konzertbühne, so auch im zweiten Teil ihres Konzerts im Münchner Prinzregententheater.

Danish String Quartet © Caroline Bittencourt
Danish String Quartet
© Caroline Bittencourt

Das Programm war so spannend wie ein guter Roman. Auf den ersten Blick mochten die Protagonisten dieser musikalischen Erzählung so gar nicht zusammenpassen; im Laufe des Abends aber offenbarten sich überraschende und faszinierende Einblicke selbst in Werke, die jeder Kammermusikliebhaber schon hunderte Male gehört und im Falle des Münchener Publikums an diesem Abend auch teils selbst gespielt hat. Diese Erkenntnisse wären nicht entstanden, hätten die vier Skandinavier des Danish String Quartet nicht vorher andere Charaktere in ihre Narrative eingebunden.

Zunächst erklang das Andante aus dem Streichquartett Nr. 82 F-Dur, Op.77 Nr.2 von Joseph Haydn, dem dritten Satz aus seinem letztem Streichquartett. Auf dem Gipfel seiner kompositorischen Meisterschaft zeigt sich Haydn hier derart innovativ und experimentierfreudig, dass man beim Zuhören aus dem Staunen nicht herauskommt. Auf kleinstem musikalischen Raum, beginnend mit einem Zwiegesang der Geige und des Cellos, werden harmonische Wendungen und motivische Verflechtungen kreiert, bei denen auch die vier Musiker und allen voran der Cellist Fredrik Schøyen Sjöln und der erste Geiger Frederik Øland immer wieder keck ins Publikum blickten, als wollten sie sagen: „Hört genau hin, diese Sprache verstehen wir alle, und was uns Haydn hier erzählt, überrascht uns immer wieder aufs Neue“. Derartige Überraschungsmomente bot das Danish String Quartet in hundertmal probierten Varianten unterschiedlicher Artikulationen, Phrasierungen, Stricharten, dem wohldosierten Einsatz oder auch dem kompletten Verzicht auf Vibrato, und einer stets spürbaren Neugier auf das, was die Vier in jenem Moment erschufen. Indem sie den Notentext nicht als Korsett begreifen, sondern als Absprungbasis für einen kühnen Flug in die unendlichen Weiten des musikalischen Universums.

Das zweite Stück des Abends stammte von der US-amerikanischen Komponistin Caroline Shaw (*1982). In Entr’acte bezieht sich Shaw explizit auf dieses Streichquartett Haydns, und zwar den zweiten Satz, ein Menuett. Bereits Haydn hatte hier den Rahmen des klassischen Menuetts unerhört innovativ gesprengt und bringt den Zuhörer, wie Shaw es ausdrückt „plötzlich auf die andere Seite des Spiegels von Alice [im Wunderland]”, indem er im Trio einen Ländler bis nach Des-Dur tanzen lässt. Ebenso innovativ treibt Shaw die klanglichen Möglichkeiten des Streichquartetts in ungeahnte Sphären und findet glücklicherweise im Danish String Quartet das perfekte Ensemble für ihr großartiges Kleinod. Die Musiker produzieren Klänge, die man so noch nie gehört hatte: Pizzicato-Suchbilder, die an lose Buchstabenreihen erinnerten, aus denen unser Gehirn plötzlich semantische Muster knüpft.

Und dann der Höhepunkt des Abends: Schuberts „Großes“ G-Dur Quartett Op.161, musikalische Mondlandung und Einsame-Insel-Stück für unzählige Musikliebhaber. Das Danish String Quartet interpretiert diesen heiligen Gral der Kammermusik aufregend radikal. Aufregend die fahlen und extremen Klangfarben, die bereits mit Shaw die Bühne betreten hatten. Die vier Musiker produzierten aber auch diesen wundervoll dichten homogenen Orgelsound der fetten Akkorde, den nur perfekt aufeinander eingeschwungene Streichquartette erzeugen können, um dann in der nächsten Sekunde wieder auf ihren Instrumenten zu singen und zu schwingen. Radikal innovativ in der flexiblen Gestaltung von Tempo und Metrik zeigten sie das Suchende, Changierende, das Tasten nach dem Sinn, die fragile Seele der Musik Franz Schuberts. Das, was seine Musik so universal menschlich macht. Die Durchführung des Andante-Satzes, wenn Cello und Geige das zweite Thema zunächst auf dem Tremolo weiterentwickeln, um dann nach einem erlösenden Pizzicato endlich das Metrum zu finden und auf vorwärts drängenden Triolen weitererzählen, hat man niemals überzeugender gehört. Trotz oder gerade wegen des fast unmerklichen Zögerns und Zauderns, der kleinen Rubati und feinen Beschleunigungen.

Die skandinavischen Volkslieder und Tänze von den Farröer-Inseln, aus Norwegen und Schweden rundeten den Abend erfrischend schwungvoll ab und spannten den Bogen von zeitlosen Erzählungen mystischer Epen wie dem Nibelungen-Lied hin zum Diesseitigen Tanz und der schieren Freude am Dasein.


Das Konzert wurde von der Münchner Konzertdirektion Hörtnagel veranstaltet.

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