Es ist durchaus bemerkenswert. Während viele Konzerte und auch Opernvorstellungen am Corona-bedingten Rückgang der Zuhörerzahl leiden, war im Philharmonischen Konzert der Staatsphilharmonie Nürnberg die Meistersingerhalle ausverkauft. Und dies bei einem Programm, das bei oberflächlicher Durchsicht der Titel so gar keinen rein deliziösen Hörgenuss versprach und sich nicht einfach bei den Dauerbrennern der großen B's bediente. Die Begeisterung über Joana Mallwitz' Programmgestaltung und ihr auch mit narrativer Gestik erhellendes Dirigat, ihre verständlichen Einführungen ebenso wie ihr allürenfreies Auftreten haben eine treue Zuhörerschaft an das philharmonische Orchester gebunden, dessen Spielstärke und Ausstrahlung unter Mallwitz' musikalischer Arbeit noch einmal deutlich zugelegt hat.

Joana Mallwitz © Simon Pauly | Staatstheater Nürnberg
Joana Mallwitz
© Simon Pauly | Staatstheater Nürnberg

Ein musikalisches Monstrum wie Alexander Skrjabins (eigentlich Vierte) Symphonie hätte Mallwitz auch an das Ende des Abends setzen können, wie ihre ebenso jugendliche Kollegin Karina Canellakis es jüngst in der Berliner Philharmonie gewählt hat. „Ekstase“ hieß das Konzertmotto in Nürnberg, und hier ließ man die musikalischen Muskeln gleich zur Eröffnung mit diesem Werk warm werden. 

Skrjabin fühlte sich weniger seiner russischen Heimat als dem Slawischen eines Chopin verbunden, fand in der Klaviermusik seine Ausdruckspalette. Betont nach Westen blickend begeisterte ihn Wagners und Liszts pompöse Orchestersprache. Ein Gesamtkunstwerk, ähnlich Wagners eigenen Libretti seiner Bühnenwerke, schwebte ihm vor. So verfasste er als Grundlage einen Gedichttext, den er Le poème de l'extase betitelte. Da geht es um Befreiung der Menschheit, eine Zauberwelt wundersamer Gestalten und Gefühle; und am Ende von rund 370 Zeilen den Sieg eines Helden: „Und es hallte das Weltall vom freudigen Rufe: Ich bin!“ Ob Skrjabin nun eine sexuelle, politische oder religiöse Ekstase meint, bleibt unklar.

Nur zeitlich gibt sich der Russe zurückhaltend in seinem Werk, ansonsten komponiert er zwanzig Minuten lang geradezu maßlos: romantisches Orchester seiner Zeit in voller Stärke, allein acht Hörner, fünf Trompeten, drei Posaunen, zwei Harfen, Celesta, sieben Schlagzeuger und eine Orgel, die nur im Klangrausch des Finales für ein paar Takte zu hören war. Mallwitz strukturierte das einsätzige Werk klar, öffnete das Klangbild ruhigerer Passagen geschickt, um die verführerische Finesse der wundervollen Soli des Konzertmeisters, von dichten Harfenarppegien und intensiver Holzbläsermelodie hörbar zu machen. Mit gleicher Sorgfalt setzte sie die Puzzleteile zusammen, baute aus ihnen die immensen Steigerungen des Orchesterapparats auf, die rhythmisch vom virtuosen Schlagwerk durchpulst und von wuchtbrummigen Blechbläsermassen mit aufwühlender Energie geladen wurden bis zum brillant inszenierten C-Dur-Höhepunkt: magisch flirrend und voller emotionalem Hochdruck.

Statt einer orchestralen Hundertschaft blieben noch dreißig Streicher auf dem Podium für Avner Dormans 2006 komponiertes Mandolinenkonzert, das von Avi Avital, Widmungsträger des Konzerts, solistisch überwältigend vorgestellt wurde. Die Mandoline, bisher nur in der Barockzeit als Soloinstrument eingesetzt, wollten Dorman und Avital in ihren virtuosen Möglichkeiten neu entdecken, Einflüsse etwa aus russischer Volksmusik, Bluegrass, brasilianischem Jazz und Avantgarde mischen. Dazu wechselte Avital atemberaubend zwischen perkussiven Abschnitten, bei denen geradezu rockartig eruptive wie tremolierende Motive Energie aufstauten, und fast erstarrenden Augenblicken, in denen besonders im Mittelteil herrliche konzertante Meditationen mit Streichersolisten entstanden. Ein melodisch dichtes, pulsierendes Klanggewebe, aus dessen Harmonik am Schluss Avital durch langsames Umstimmen der Saiten sein Instrument hell schimmernd herausgleiten ließ: bravourös!

In ihrer überzeugten Romantik erscheinen Sergej Rachmaninows Symphonische Tänze, 1940 im amerikanischen Exil geschrieben, fast wie aus der Zeit gefallen. Dass sich bald mehr als süßliche Nostalgie ereignet, machte Mallwitz wieder mit zügigem Tempi deutlich, gestaltete die Klangüppigkeit in eine flexible Klangwelt um, die hier ständig ihre Kraftfelder und Temperaturen ändert. Schon das Zitat eines Themas seiner Ersten Symphonie im Allegro kam kraftstrotzend herüber, wundervolle Soli des Saxophons, der Oboe und Klarinette bildeten Inseln fein differenzierter klanglicher Nuancen. Das Andante im Tempo di Valse hatte nur kurz balsamische Charakterzüge, drehte sich immer schneller in den grotesken Reigen trauriger Walzerklänge. Im dritten Satz, von zwölf Glockenschlägen eingeleitet, waren die Reminiszenzen an Toteninsel und Glocken vom Dies-Irae-Motiv durchzogen; bis ins Elegische reichende Wendungen hoben die Philharmoniker furios auf Augenhöhe mit den fast überhitzten Steigerungen des Alleluja aus Rachmaninows Ganznächtlichen Vesper, gegen deren strahlendes C-Dur das Requiem-Zitat den Kürzeren zieht. Ein ekstatisch aufgepeitschtes Finale, das den Bogen schlug zu Skrjabins Poème!

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