Der Nationalismus hat heutzutage einen schlechten Ruf. In dessen Namen wurden und werden immer wieder unsägliche Verbrechen begangen. Davon kann gewiss auch der im sibirischen Omsk geborene und als 18-Jähriger mit seiner Familie nach Österreich emigrierte Kirill Petrenko ein Lied singen. Dass er nun diesen Sommer am Lucerne Festival ausgerechnet die symphonische Dichtung Mein Vaterland von Bedřich Smetana, das musikalische Nationalepos der Tschechen, zum Besten gab, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Im vergangenen Mai fiel Petrenko und seinen Berliner Philharmonikern gar die Ehre zu, das Festival Prager Frühling mit diesem Werk zu eröffnen, und seither geht das Gespann damit auf Reisen.

Tschechische Dirigenten früherer Jahrzehnte wie Rafael Kubelík, Karel Ančerl, Václav Neumann oder Jiří Bĕlohlávek identifizierten sich in hohem Maße mit Smetanas symphonischem Hauptwerk, das für die Erstehung des tschechischen Nationalgefühls in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielte. Und der Russe Petrenko, der die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt und seit 25 Jahren als GMD an verschiedenen prestigeträchtigen deutschen Institutionen wirkt? Kurz gesagt: Petrenko identifiziert sich nicht mit Smetanas Nationalismus, sondern er stellt ihn dar.
Zärtlich führen die beiden Harfenistinnen der Berliner Philharmoniker in die „Es war einmal“-Stimmung von Vyšehrad ein, danach exponieren zuerst die tiefen Bläser das Hauptthema, die hohen Holzbläser spinnen es fort, und schließlich führen es die Streicher zu einem ersten Höhepunkt. Vyšehrad – das ist die Burgruine im Süden der Stadt Prag, gemäß der Sage der Wohnsitz der legendären Libuše, der Urmutter des ersten tschechischen Königsgeschlechts. Petrenko dreht noch nicht zu stark auf, wohlwissend, dass im Verlauf der weiteren anderthalb Stunden noch einige Höhepunkte folgen werden.
In der Moldau, dem zweiten und berühmtesten der sechs Stücke, verdeutlicht sich der interpretatorische Ansatz noch mehr: Die Tempi sind relativ zügig, in der Instrumentation herrscht eine betörende Farbigkeit. Die Polka der Bauernhochzeit erklingt geradezu musikantisch, die Mondscheinnacht ist voller Poesie, aber ohne Kitsch, die Gestaltung der Stromschnellen kommt mit der nötigen Zuspitzung daher, der „breit dahinfließende“ Strom hat erstaunlichen Zug, und wenn die Moldau schließlich an der Burg Vyšehrad vorbeiströmt, vermeidet Petrenko alles Pathos.
Um gleichermaßen illustrierende Programmmusik handelt es sich auch bei Šárka, dieser legendären Amazonengeschichte aus dem sogenannten Mägdekrieg. Was hier neben einer eindrucksvollen Erzähldramaturgie auffällt, ist die Art, wie der Dirigent die Nebenstimmen aufblühen lässt und so immer wieder unerwartete Hörerlebnisse beschert. Naturschilderung in Reinkultur begegnet in der Nummer vier, Aus Böhmens Hain und Flur. Dementsprechend geraten hier die lyrischen Elemente am schönsten: Was für eine Poesie beim melancholischen Holzbläser- oder beim pastoralen Hörnerthema!
Den nationalistischen Charakter von Mein Vaterland begründen vor allem die beiden letzten Sätze, die inhaltlich und musikalisch eng miteinander verflochten sind. Es geht um die Hussitenkriege, um Reformation und Gegenreformation, auch um Kämpfe innerhalb der hussitischen Bewegung. In der Stadt Tabor hatten sich die Taboriten, der radikalste Flügel der Hussiten, zusammengefunden. Tábor ist ein monothematisches, martialisches Stück und überzeugt kompositorisch innerhalb des Zyklus am wenigsten. Petrenko kann oder will sich dem Pathos dieser Musik nicht entziehen, zieht alle Register einer plakativen Darstellung und lässt zum Schluss den Hussiten-Choral als pure Machtdemonstration erklingen. Ironie?
Blaník wendet das Pathos von Tábor ins Optimistische und Utopische. Eines Tages, so das Programm, würden die getöteten hussitischen Krieger wieder erwachen und unter der Führung des heiligen Wenzel die Heimat befreien. Die Umformung des martialischen Chorals in einen fröhlichen Marsch gelingt Petrenko bravourös, die Berliner folgen ihm bis ins letzte Detail. Wenn dann zum Schluss das Vyšehrad-Thema nochmals aufscheint, hat das eine unwiderstehliche Leuchtkraft. Rafael Kubelík selig – man kann es heute noch auf Tonträgern hören – hatte diesen Schluss wie den Einzug in das Gelobte Land dirigiert. Kirill Petrenko erzählt den finalen Triumph quasi als Außenstehender, der von dieser Geschichte sehr angetan ist.