Spätbarock, alter und modern-galanter Stil, Übergang zur Frühklassik, französischer, italienischer, slawischer, mithin europäisch gemischter Geschmack, alle Genres in einem umfangreichen Œuvre mit speziellem Witz, bürger- oder lebensnaher Aktualität sowie legendärem Ruf und größter Expertise: kaum ein, ich behaupte sogar kein Komponist hat solch eine umfassende und inspirierend-interessante Spannweite wie Georg Philipp Telemann.

Sophie Karthäuser © Shirley Suarez
Sophie Karthäuser
© Shirley Suarez

Mit dem Brüsseler Barockorchester Les Muffatti und französischem Gast-Konzertmeister Patrick Cohën-Akenine sowie belgischer Sopranistin Sophie Karthäuser war sie exemplarisch in einem weiter nicht übermäßig zu erlebenden puren Telemann-Konzert zur Eröffnung diesjährigen Festivals de l’Été Mosan im wallonischen Dinant, in berüchtigter Collégiale Notre-Dame direkt an Fels und Maas anzutreffen, als ein Concerto und Divertimento für verschiedene Bläser und zwei originelle weltliche Solokantaten auf dem Programm standen.

Dabei hatten die Musiker ihren Interpretationsansatz einerseits der Kirchenakustik, andererseits dem weiteren atmosphärischen Rahmen einer leichteren Sommerunterhaltung, bei der Weiberorden-Kantate natürlich auch der Grundlage, ansonsten dem Vorkommen der Traversflöten angepasst. Das bedeutete instrumental, den allseits begleitenden Streicher- und teilweise hinzutretenden Hörnerklang dynamisch sehr sensibel und nicht allzu dramatisch extravagant zu halten; vokal, sich bei den Kantaten trotz der Opernanlage im Falle Telemanns brillanter, aus seinen letzten Lebensjahren mit ungebrochener Schaffenskraft klassisch vorausschauender, empfindsam tonsprachlicher Ino-Kantate daran stil- und ausdruckstechnisch im Sinne einer Ensemblebalance zu orientieren.

Im Concerto TWV 53:G1 konnten so gelassene und doch gefühlvolle, rhythmische, melodische, in ihren fließenden Figuren absolut exakte Flöten und das gleichsam warm-geschmeidige Fagott Isabel Favillas vernommen werden. Es erlaubte sich im slawisch konnotierten, folkloristisch-naturalistischen Finalsatz kleine, typische Späße mit den Saiten-Bässen, die dafür ausnahmsweise mal ganz kurz ihre zurückhaltenden, leichten Bögen vergessen machen konnten.

Einer gehörigen Portion Komik entbehrte es dann schon ohne Eingang auf die konkrete Umsetzung nicht, dass Telemanns Kantate Der Weiberorden ausgerechnet in benannter Stiftskirche zu Gehör kam. In jenem Stück thematisiert Telemann nämlich das damalige Bild einer liebenden Frau außerhalb eines geweihten Gemäuers, bestimmt von Heirat, körperlicher Geborgenheit, Bespaßung des Mannes (und gegenseitiger) sowie Geburt eines Sohnes. Selbst mit dem religiösen „Orden“ spielt Telemann, als er den Anfang des Wiegenlieds für den erwarteten Nachwuchs „Schlaf, mein liebes Söhnelein!“ mit seinen derb-moralischen, heute in Züchtigung strafbewährten Verhaltensregeln in choralartigem Ton verpackt. Konkret füllte Karthäuser diesen fünfsätzigen Monolog mit all ihrer Telemann-Erfahrung aus, indem sie dem Text neben allseits verständlicher, ernster Deklamation auch den gekonnt-nötigen komödiantischen Slang sowie feinen, reinen, freudigen Ausdruck einer Mutter und frischvermählten Dame gab.

Wie beim Ansatz erwähnt, brachten Les Muffatti besonders die vom Komponisten angewiesene Ruhe und den Klang der Baby-„Popeia“-Mobile-Spieluhr durch Streicher, Cembalo und Erzlaute im Wiegenlied heraus, der durch den Kontrast zu den deftigen Worten („kleines Schwein, schlage mit der Ruten drein“) herrlich verstörend wirkte. Der Aufforderung der Verheirateten an die Brautjungfern, es ihr gleich zu tun, schenkte das Ensemble wieder hanakisch-deutsch beschwingte Akzentaufmerksamkeit.

Die insgesamt musikalisch lieblich-elegante, entspannte Federführung setzte sich mit den Flöten (vor allem Stefanie Troffaes) zudem im stilistisch gemischten Divertimento TWV 50:21, auch Sinfonia tituliert, fort, das Telemann in seinem Sterbejahr 1767 schrieb und darin seiner Fantasie zur vergnüglichen Jagdgesellschaft beim Landgrafen von Hessen freien Lauf ließ. Das Unterhaltungsstück zwischen Ouvertürensuite und Concerto in Manier einer Tafelmusik erfordert selbstverständlich die Hörner, die bei Les Muffatti dosierte Würze einbrachten, wobei der Aspekt des genüsslich-zeremoniellen Rahmens im Vordergrund erwähnten interpretatorischen Gerüsts blieb.

Hätten Theatralik und Tempo in den ersten beiden Ino-Mouvements sowie dem „Tanz der Tritonen“ bei aller angesprochenen Konsequenz verhältnismäßig allerdings mehr Raum einnehmen dürfen, was in den übrigen Accompagnato-Rezitativen und Arien ja geschah, büßte Karthäuser nichts an ihrer merklichen Werklust im Vergleich zu letztem Mal ein; im Gegenteil, sie schien noch bewusster. Deutlich, geschmeidig, virtuos und expressiv, dynamisch, beweglich und verbindlich präsentierte sie sich als verzweifelt-aufopferungsvolle Ino fast so vielseitig wie Telemann selbst.

****1