Darf es etwas mehr sein? Wandelnde Diskokugeln, protestierende Zuschauer*innen und Tuchfühlung im Matratzenlager – wer seinem Operngenuss lieber konzentriert aus dem fernen Komfort des Theatersessels in Zuschauerraum frönt, dem sei davon abgeraten, die neue Inszenierung von Kurt Weills Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, das Libretto stammt von Bertolt Brecht, an der Deutschen Oper Berlin zu besuchen. Wer hingegen Freude am Ungewöhnlichen hat und auch selbst gerne mal mittendrin statt nur dabei ist, der erlebt einen vorbeirauschenden Theaterabend aus der Feder von Benedikt von Peter, bei dem das Erlebnis mehr im Vordergrund steht denn Gesang und Musik.

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Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
© Thomas Aurin

Echt brechtig, die Konventionen durchbrechend beginnt der Opernabend schon bevor man das Haus der Deutschen Oper an der Bismarckstraße betritt. „Arm, aber sexy“, Berlins in die Jahre gekommenes Credo prangt unter anderem bereits von außen in großen roten Lettern an der Fassade. Der erste Sekt fließt bereits, bevor man die Türen betritt. Willkommen im Endzeitwahn der Spaßgesellschaft, wo schon eine Dreiviertelstunde vor Beginn die Untoten vor waberndem Klangteppich durch die nebelverruchten Gänge streifen. Doch bevor man wirklich eintaucht noch schnell die Erklärung des Eingangspersonals: Feste Plätze gibt es heute nicht, für die Zuschauer*innen gilt: Einfach einreihen in die wabernden Wandlungen.

Suchen sich die meisten Zuschauer*innen als es dann losgeht noch einen strategischen Platz vor den übergroßen Projektionen, die das Geschehen aus allen Ecken des Opernhauses übertragen, so werden viele mit der Zeit mutiger und spazieren ebenso wie die Darsteller*innen durch das Haus. Vom Foyer, vor die Tür, in das Auditorium: Ein wahnsinniges Wimmeln, bei dem man stets etwas zu verpassen droht. Siebenmeilenstiefel (oder zumindest bequemes Schuhwerk) an und schon geht es los durch das Rauf und Runter der Deutschen Oper, wahlweise auch mit Verkleidung.

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Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
© Thomas Aurin

Das lohnt sich, denn so gelingt es, insbesondere die Sänger*innen für kurze Momente in ihrem eigentlichen Metier zu hören. Denn das große Manko des Konzeptes: Orchesterklänge und Gesang werden über Mikrofone in das ganze Gebäude übertragen. So ist zwar alles überall zu hören, aber es nivellieren sich Klänge und Stimmen, der eigentliche Hörgenuss tritt in den Hintergrund. Wärmer, detailreicher, nuancierter: Wer es schafft, die Sänger*innen am Ort des Geschehens aus der Nähe zu beobachten, ihre Stimmen unverstärkt zu hören, erwartet ein ganz anderes Hörerlebnis als vor den Bildschirmen. Doch egalisieren sich im Gesamtkonzept für lange Strecken des Abends die Stimmen von Evelyn Herlitzius als Begbick, Nikolai Schukoff als Jim Mahoney, Annette Dasch als Jenny Hill sowie Robert Gleadow als Dreieinigkeitsmoses und Thomas Cilluffo als Fatty.

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Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
© Thomas Aurin

Das Orchester, unter der Leitung von Stefan Klingele, findet sich in dieser Inszenierung in einer muschelartigen Konstruktion auf der Bühne wieder. Klingele hält meisterhaft Orchester und Sänger*innen, die sich möglicherweise gleich ganze Stockwerke entfernt befinden, im Einklang, auch wenn der Weill'sche Biss über weite Strecken eher zahm denn im spannendsten Sinne knackig-ätzend wirkt. Als pünktlich zum Hurrikan des zweiten Aktes das Publikum dann in den sicheren Hafen der Stadt Mahagonny – an diesem Abend der Bühnenraum – geleitet wird, fährt das Orchester bis an den hintersten Bühnenrand zurück. Nun beginnt die wahre Immersion.

Plötzlich steht man dort, mitten auf der Bühne. Den Brettern, die die Welt bedeuten. Der Blick in den weiten, leeren Zuschauerraum gerichtet. Rechts ein Statist, links ein Chorist. Auf dem Matratzenlager (Tipp: nicht nur bequemes Schuhwerk, auch bequeme Kleidung ist empfohlen für dieses Erlebnis) geht es auf in den Fall der Stadt Mahagonny. Ein paar Leitern, drei alte Theatersessel und ein paar freie Gänge, viel mehr Platz bietet sich den Darsteller*innen nicht. Manchmal ist man sich dabei nicht sicher, ob die Person neben sich eigentlich Teil der Produktion oder des Publikums ist und erfährt es erst, wenn der tiefe Bass des Choristen neben sich brummt.

<i>Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny</i> &copy; Thomas Aurin
Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
© Thomas Aurin

Darauf gilt es sich einzulassen und Respekt zu haben vor der koordinativen Meisterleistungen aller Beteiligten, nicht zuletzt der Spielleitungen, Kameraleute und Toningenieure, die in dieser Produktion ebenso mit Siebenmeilenstiefeln unterwegs sind wie die Darsteller*innen. Oper zum Anfassen ist das. Doch auch wenn alles zum Greifen nah ist, eingreifen in den unwiederbringlichen Verfall tut niemand. Stattdessen ist es ein ungewöhnlich voyeuristischer Blick auf eine Produktion, die sich über weite Strecken mehr zum Ereignis macht, denn neue Einsichten schafft. So aber zumindest über manche Länge des Stückes kurzweilig hinwegzutäuschen vermag. Em Ende scheinen dann auch viele im Publikum überfragt zu sein, was sie eigentlich auf die verteilten Protestschilder schreiben sollen. Liebe, Klima, Freiheit – Gier, Völlerei, Macht. Frei nach Brecht: Nun stehen wir da und sehen betroffen, der Vorhang zu und alle Fragen offen.

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