„Das größte Kunstwerk, das die Welt je gesehen hat“, bemerkte Carl Friedrich Zelter, Gründer der Berliner Sing-Akademie, im Jahr 1811 zutiefst beeindruckt zu Johann Sebastian Bachs Messe in h-Moll. Über 200 Jahre nach Zelter und rund 300 Jahre nach Entstehung des Bach’schen Opus summum trat man am vergangenen Wochenende einmal mehr den Beweis für die monumentale Unvergänglichkeit der Messe an. Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter seinem Chefdirigenten Vladimir Jurowski stand dazu im ausverkauften Großen Saal des Konzerthauses auf der Bühne und hatte mit dem RIAS Kammerchor einen der herausragendsten der noch verbliebenen Rundfunkchöre sowie ein feinfühlig agierendes Solistenquintett an seiner Seite.

Dabei stellten sich alle Ausführenden merklich in den Dienst der Musik und leuchteten farbenreich und mit großem Bewusstsein die meisterlich von Bach komponierten Effekte aus. Das im symphonischen Repertoire beheimatete rsb bestach dabei mit kleiner Besetzung und bewusst schlankem Barockklang und zeigte sich als agil agierendes, hellwaches Ensemble. Die um Andreas Arend an der Theorbe ergänzte Continuo-Gruppe aus Celli, Kontrabässen, Cembalo und Truhenorgel überzeugte dabei mit ihrer immensen Spielfreude ganz besonders. Der 37-köpfige RIAS Kammerchor, der die h-Moll-Messe unzählige Male in seinem mehrere Jahrzehnte umfassenden Bestehen zur Aufführung gebracht hat und sich dem Werk somit in besonderem Maße verbunden fühlt, glänzte mit organischer, runder Klangschönheit, kernigen Tiefen und samtigen Höhen. Jurowski, selbst vor allem Interpret des großen Orchester- und Opernrepertoires, setzte auf eindrücklich zurückgenommenes Dirigat, mischte die angebotenen Klangfarben fein ab, ordnete dezent das Geschehen und „würzte“ den ohnehin hervorragenden Gesamtklang nuancenreich nach.
„Sind wir einmal an Bord und die Anker gelichtet, so haben wir keine Gelegenheit auszusteigen, bis – nach 100 Minuten – der letzte Akkord, die letzte Bitte um ‚pacem‘ (Frieden) verklungen ist“, bemerkte der Alte-Musik- und Bach-Experte Sir John Eliot Gardiner einmal treffend. Wie recht er mit dieser Feststellung hatte, zeigte sich auch in Berlin. Bereits mit den ersten Takten machte Jurowski deutlich, dass seine Interpretation vielleicht am besten unter dem Schlagwort „Geschlossenheit“ zusammengefasst werden kann – sowohl musikalisch und damit an das Gardiner-Zitat gemahnend als auch was die Verwobenheit der drei auf der Bühne versammelten Gewerke anbetrifft. So stimmten die Solist*innen mit ein in die eröffnende Kyrie-eleison-Anrufung des Chores und stießen auf diese Weise als großer Gesamtklangkörper das musikalische Tor zum folgenden Geschehen auf. Nach dem von Lezhneva und Lackner als demütig flehende Anrufung gestaltetem Duo „Christe eleison“ meißelte der Chor im zweiten „Kyrie“-Satz das zugrundeliegende Kreuzmotiv regelrecht aus dem archaischen Klang heraus. Im prachtvollen „Gloria“ jubilierte und frohlockte der Chor mit maßgeblicher Unterstützung durch die blendend aufgelegten Bach-Trompeten. Ausgesprochen gelungen ließ Jurowski die Solist*innen den Übergang zum „Et in terra pax“ übernehmen. Der filigrane Beginn dieser verzahnten, sich immer weiter steigernden Fugen-Passage geriet so zu einem noch markanteren Umbruch; das durch den später hinzutretenden Chor sukzessive Anwachsen des Klangs machte diesen Satz zu einer optimistischen Bekräftigung der aus der Weihnachtsgeschichte bekannten Friedensbotschaft.
Auch im weiteren Verlauf der Messe bediente sich Jurowski an ausgewählten Stellen noch mehrfach des Kniffs, besonders exponierte Chor-Stellen vom Solist*innenquintett singen zu lassen und erzeugte auf diese Weise besonders wirkungsvolle klangliche Effekte (etwa im regelrecht martialisch knirschenden „Crucifixus“ oder im mysteriös-verklärten „Et expecto“-Übergang des „Credo“). Besondere Würdigung verdient der herausragende Altus Hugh Cutting, derzeit BBC New Generation Artist. In seinen beiden Arien „Qui sedes“ und dem „Agnus Dei“ glänzte der junge Brite mit packender Präsenz und schien jeden einzelnen Konzertbesucher im Saal direkt ansprechen zu wollen. Solide präsentierten sich Tenor Patrick Grahl und Bassist Christian Immler in ihren Solo-Passagen und fügten sich in ihren Arien nahtlos mit den jeweils solistisch aus dem Orchester hinzutretenden Instrumenten zusammen. Alice Lackners warmer Mezzosopran zeigte sich besonders im „Crucifixus“ als wandelbar und hochgradig flexibel; im „Laudamus te“ in der ersten Konzerthälfte brillierte sie Seite an Seite mit Konzertmeister David Nebel. Einzig Julia Lezhneva konnte nicht immer überzeugen und sich gelegentlich, insbesondere im tieferen Register, mit ihrer glockenhellen, aber eher „kleinen“ Sopranstimme nicht ganz gegen ihre solistischen Mitstreiter*innen durchsetzen.
Den mit dem ausführlich auskomponierten Glaubensbekenntnis beginnenden zweiten Teil des gelungenen Konzertabends formten alle Ausführenden als lebendige Schilderung der Ereignisse. Insbesondere die im „Credo“ auf wenige Sätze verknappte Geschichte Jesu Christi präsentierten die Musiker*innen als kaleidoskopisch leuchtende Handlung und bekräftigten im abschließenden „Confiteor“ und „Et expecto“ die essenzielle Heilsbotschaft des christlichen Glaubens. Das zügige Tempo des strahlenden „Sanctus“ ließ wenig Raum für pathetische Überhöhung und leitete organisch zum „Osanna“ über. In der derzeit so aktuellen Bitte um Frieden im „Dona nobis pacem“ ganz am Ende der Messe schlug Jurowski den Bogen zurück zu den anfänglichen „Kyrie“-Takten, indem die Solist*innen mit in den berührenden Chorsatz einstimmten und dessen stetiges Wachsen hin bis zum überhöhenden Trompeten-Hymnus und unterstützt von bekräftigenden Paukenschlägen so als kollektive Hoffnung auf Frieden manifestierte.