Im Alter von 29 Jahren – so jung ist Klaus Mäkelä, der designierte Chefdirigent des Royal Concertgebouw Orchestra – hatte Schubert bereits alle heute bekannten Symphonien fertiggestellt, während Mahler gerade mal eine einzige hervorgebracht hatte. Die Kombination einer Schubert- und einer Mahler-Symphonie im Konzert der „Königlichen“ bot unter diesem Aspekt eine interessante Ausgangslage. Von Schubert stand indes nicht eine seiner offiziellen neun Symphonien auf dem Programm, sondern ein Torso. Es handelt sich um die 1828 entstandene Symphonie in D-Dur, deren drei Sätze nur skizzenhaft überliefert sind.

Klaus Mäkelä dirigiert das Royal Concertgebouw Orchestra © Priska Ketterer | Lucerne Festival
Klaus Mäkelä dirigiert das Royal Concertgebouw Orchestra
© Priska Ketterer | Lucerne Festival

Nach der Veröffentlichung des Faksimiles im Jahr 1978 gab es verschiedene Versuche, die vorhandenen Skizzen in eine spielbare Partitur zu verwandeln. 1988 bis 1990 schrieb der italienische Komponist Luciano Berio eine Version, die einen radikal anderen Ansatz wählte. Rendering – deutsch: Wiedergabe, Übertragung, Darstellung – zielt nicht auf Restaurierung allein, sondern kombiniert den Schubertklang mit klanglichen Elementen der Moderne der ausgehenden Achtziger Jahre. Schon 1968 hatte Berio mit Sinfonia ein Werk vorgelegt, das die Auseinandersetzung mit historischem Material sucht, unter anderem mit dem Scherzo aus Mahlers Zweiter Symphonie.

Wie die Schubert-Symphonie durch die Brille Berios klingt, ist bei der Aufführung im KKL gleich beim ersten Satz zu hören. Zu achtzig Prozent ist hier „originaler“ Schubert (in der postulierten Instrumentierung Berios) zu hören, aber an zwei Stellen bricht gleichsam der Boden ein, und darunter wird, angeführt von der Celesta, eine zerbrechliche, schillernde, schräge Klangschicht hörbar. Schuberts grundsätzlich bejahende Musik wird da einer prekären Gegenwelt ausgesetzt, die an die Winterreise denken lässt. Im zweiten und im dritten Satz wählt Berio andere Verfahren der Kombination; gelegentlich gleitet die Schubert-Musik fast unmerklich in die Berio-Musik und umgekehrt. Klaus Mäkelä zeigt ein sicheres Gespür für dieses Vexierspiel und sichert dem nicht so oft gehörten Werk eine schlüssige Wiedergabe.

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Klaus Mäkelä dirigiert das Royal Concertgebouw Orchestra
© Priska Ketterer | Lucerne Festival

Für sein jugendliches Alter hat der finnische Dirigent bereits eine sagenhafte Karriere hingelegt. Nach dem Oslo Philharmonic und dem Orchestre de Paris wird er 2027 den Chefposten des traditionsreichen Concertgebouworkest übernehmen. Wer das Amsterdamer Spitzenorchester leitet, muss sich auf jeden Fall mit Mahler bewähren, denn der Klangkörper ist seit den Zeiten von Willem Mengelberg tonangebend in der Mahler-Exegese. Mäkele war nicht von Anfang an der geborene Mahler-Interpret. Als er vor zwei Jahre bei seinem Einstand am Lucerne Festival dessen Vierte Symphonie dirigierte, hatte er, wie der Kritiker damals schrieb, seine „Feuerprobe nur teilweise bestanden“.

Heuer, mit der Symphonie Nr. 5 in cis-Moll im Gepäck und vor seinem zukünftigen Orchester stehend, zeigt sich ein offensichtlich gereifter und mit mehr Erfahrung ausgestatteter Mäkelä. Noch immer ist sein Dirigat sehr sportlich und auf (auch optischen) Effekt ausgerichtet. Aber die vielen musikalischen Einzelheiten stehen jetzt vermehrt in einem Gesamtzusammenhang. „Einheit in der Vielfalt“ könnte man diesen Ansatz nennen. Im Trauermarsch beispielsweise bilden das fanfarenartige Thema des Blechs und das klagende Streicherthema deutliche Gegensätze, sind aber durch den unerbittlich schreitenden Kondukt-Rhythmus miteinander verbunden. Im Scherzo, dem längsten Satz der Symphonie, lässt Mäkelä die Musik mal walzerartig ausschreiten, mal sentimental sich verweilen oder drängend einem Höhepunkt zusteuern.  Dabei stimmt er die zahlreichen solistischen Einwürfe und das Gruppenspiel der Register bestens aufeinander ab. Die Mitglieder des Royal Concertgebouw Orchestra zeigen sich, nicht nur in diesem Satz, als Alleskönner und werden ihrem Ruf als eines der weltbesten Orchester gerecht.

Dem jugendlichen Übermut des Dirigenten ist es wohl zuzuschreiben, dass er am Schluss des zweiten Satzes den dort erst fragmentarisch auftauchenden und wieder verebbenden Choral zu laut und zu affirmativ darstellt. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als ihn, wenn er am Ende der Symphonie in seiner ganzen Länge erscheint, in geradezu lärmendem Protz erstehen zu lassen. Auf die weitere künstlerische Entwicklung Mäkeläs darf man gespannt sein.

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