Lautstark, mit viel Blech, Schlagwerk und Röhrenglocken erklingt im ersten Satz eine Art Refrain, der als eine abgewandelte Weise der gregorianischen „Dies irae“-Melodie zu erkennen ist. „Tag des Zornes, Tag des Schreckens!“ Dazwischen steuert der Solist wirblige Interpolationen des Soloinstruments auf einer weiten Skala von abgründig tiefen bis giftig hohen Tönen bei. Es handelt sich um den ersten Satz, Metal, des Klarinettenkonzerts von Anna Clyne, interpretiert von Martin Fröst und dem Tonhalle-Orchester Zürich unter der Leitung von Cristian Măcelaru

Martin Fröst © Nikolaj Lund
Martin Fröst
© Nikolaj Lund

Die Komponistin Anna Clyne ist hierzulande ein weitgehend unbeschriebenes Blatt. Die 45 Jahre alte Engländerin, die in New York lebt, kann aber mittlerweile eine respektable Werkliste vorlegen, gerade auch im symphonischen Bereich. Ihre Orchesterwerke tragen meistens sprechende Überschriften wie Masquerade, Prince of Clouds oder Within Her Arms. Das Klarinettenkonzert mit dem Titel Weathered, von Fröst im Jahr 2023 in Amsterdam uraufgeführt, geht dem Phänomen des Verwitterns und Vergehens nach. Die Sätze eins, drei und vier imaginieren die Materialien Metall, Stein und Holz im Stadium des Verwitterns. Bei Heart denkt die Komponistin an die Toten der Covid-Zeit, bei Earth an die zerstörerischen Aspekte des Klimawandels.

In technischer Hinsicht ist Clynes Klarinettenkonzert in enger Zusammenarbeit mit Fröst entstanden. Wie die Komponistin im Programmheft schreibt, demonstrierte ihr der Klarinettist alle möglichen Spezialtechniken des Instruments, begutachtete ihre Skizzen und machte Verbesserungsvorschläge. In stilistischer Sicht repräsentiert das Konzert einen publikumswirksamen und assoziationsreichen Typus zeitgenössischer Musik amerikanischer Prägung.

In Heart, dem zweiten Satz des Werks, breiten die Streichinstrumente einen harmonischen Ground aus, über dem die Soloklarinette und die Holzbläser ihre melancholischen Melodien ausbreiten. Eine aberwitzige Virtuosität demonstriert Fröst im scherzo-artigen Satz Stone und vermag diese in der improvisierten Kadenz sogar noch zu steigern: Er jongliert mit den bereits gehörten Themen, verblüfft mit ausgefallenen Spieltechniken und bringt es gar fertig, zum Spielen auch noch zu singen. In Wood dominieren sinngemäß die Holzblasinstrumente des Orchesters, in deren Klang das Soloinstrument eintaucht. Trompetenfanfaren eröffnen den Schlusssatz, Earth. Motorische Elemente treten hinzu, und bald erscheint auch wieder die endzeitliche „Dies Irae“-Melodie. Ein musikalischer Wink mit dem Zaunpfahl fürwahr! Mit einem sanften Abgesang der Klarinette und einem Dur-Schluss des Orchesters endet das Werk aber überraschend versöhnlich.

Nicht weniger auf den schwedischen Starsolisten ausgerichtet als Clynes Klarinettenkonzert ist die (geplante) Zugabe mit den Anniversary Dances für Soloklarinette und Streicher von Frösts Bruder Göran. Die mit Motiven aus Brahms‘ Ungarischen Tänzen gespickte Komposition lässt den selbstbewussten Solisten noch mehr aufdrehen und sichert ihm den tosenden Applaus des Publikums.

In eine ganz andere Welt wird man nach der Pause durch Sergei Prokofjews Symphonie Nr. 5 in B-Dur versetzt. Entstanden ist sie im Kriegsjahr 1944 in einem vermutlich von der sowjetischen Führung ermöglichten Refugium außerhalb Moskaus, währenddessen die Rote Armee gegen Nazi-Deutschland kämpfte. Wieweit bildet also das Thema des Krieges ein Sujet dieser Symphonie? Prokofjew wollte nach seinen eigenen Worten in dem Werk „eine Symphonie der Größe des menschlichen Geistes“ darstellen, aber in der Rezeption ist die Fünfte auch immer wieder als Kriegssymphonie aufgefasst worden.

Welche Deutung legt die Interpretation des rumänischen Gastdirigenten Cristian Măcelaru mit dem Tonhalle-Orchester nahe? Die Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten. Im ersten Satz klingt Vieles laut und grobschlächtig, im Scherzo zeigt der Dirigent eine Vorliebe für grelle und gegensätzliche Klangfarben, in der Mitte des langsamen Satzes lässt er das Orchester zu einem Verzweiflungsschrei ausbrechen, das Allegro giocoso des Finales endet in einem forcierten Siegesgestus. Also doch Kriegssymphonie? Alles in allem wirkt die Interpretation etwas derb und nicht in allen Teilen ausgefeilt.

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