Im vergangenen Jahr wurde das große Bruckner-Jubiläum, der 200. Geburtstag des Komponisten, von zahlreichen Orchestern und Musiker*innen weltweit gefeiert. Die Symphonien des Österreichers sind ohnehin aus den Konzertplänen nicht wegzudenken und dennoch wurde 2024 ein besonderer Augenmerk auf seine Werke gelegt. Nur wenige Dirigent*innen stechen jedoch aus der schier unendlichen Anzahl der Symphoniekonzerte mit Werken Anton Bruckners hervor: Christian Thielemann mit seinem Zyklus der Wiener Philharmoniker oder Andris Nelsons mit seiner Gesamteinspielung am Pult des Gewandhausorchesters haben sich in der jüngeren Vergangenheit einen Namen mit Bruckner gemacht. Auch gilt die Legende Herbert Blomstedt als einer der angesehensten aktiven Interpreten dieses Komponisten.

Einer der ganz großen Bruckner-Dirigenten ist jedoch vornehmlich im US-amerikanischen Raum präsent: Der Österreicher Manfred Honeck, der im Jahr 2020 mit seinem Pittsburgh Symphony Orchestra eine der aufsehenerregendsten CD-Einspielungen von Bruckners Neunter herausbrachte. Hierzulande mitunter noch unterschätzt, gastierte er mit diesem Werk mit dem hr-Sinfonieorchester in der Alten Oper Frankfurt und bewies erneut, warum gerade seine Interpretationen so beispiellos sind.
Bruckner konnte diese Symphonie trotz mehrjähriger Arbeit zu Lebzeiten nicht mehr vollenden. Der Komponist verarbeitete in seinem Weltabschiedswerk, gewidmet „dem lieben Gott“, allerlei mysteriöse religiöse Motivik aus dem Agnus Dei oder auch düstere Bruchstücke eines Todesmarsches. Das Werk erklang beim hr-Sinfonieorchester in seiner üblichen dreisätzigen Fassung.
Honecks Bruckner ist groß und saftig im Klang, zugleich brutal und ehrlich in der Interpretation. Er ist damit genau das Gegenteil von dem Verlieren in Details als raffiniertes Kunststück so mancher Dirigent*innen oder dem Verharren in einer Schönklang-Ästhetik, welche die Partitur lediglich schematisch zu ordnen weiß. Honeck ließ das Publikum spüren, dass er den Komponisten, den zu Lebzeiten gänzlich unverstandenen, ganz genau durchdrungen hat und seine Vorstellungen in musikalischen Ausdruck umsetzen kann.
Er überblickte das große Ganze dieser komplexen Werkarchitektur. Er schichtete die einzelnen Klangcluster übereinander, arbeitete Übergänge fließend und drängend heraus und färbte die Schattierungen der einzelnen Orchestergruppen so gehaltvoll, dass jedem im Saal der Gehalt des Werkes glaubhaft wurde. Seine Überleitungen im Adagio gerieten so ausgesprochen rasch und organisch und fühlten sich dabei doch unglaublich zeitlos und bedeutungsvoll an. Honeck gelang das Kunststück, in der Symphonie die Zeit stillstehen zu lassen und doch fortwährend voranzudrängen und das Orchester brodeln zu lassen, so dass das Publikum nur noch sprachlos dasaß, als die letzten Töne verklangen und sich eine ganz intuitive Transzendenz einstellte, in welcher Bruckners Erlösung von allem Irdischen erlebbar wurde.
Der erste Teil des üppigen Konzertprogramms, das Violinkonzert in D-Dur, Op.77 von Johannes Brahms mit Leonidas Kavakos als Solisten, geriert nach dieser sensationeller Bruckner-Interpretation doch ein wenig aus dem Fokus des Abends. Honeck gestaltete mit dem hr-Sinfonieorchester einen überaus eleganten, raffiniert akzentuierten Orchesterpart. Dieser geriet besonders im Adagio-Satz ungewöhnlich ruhig und langsam, bestach dabei mit ausgesprochen harmonisierenden Holzbläser-Soli.
Kavakos ist ein Violinist, der durch seine außerordentliche charismatische Bühnenpräsenz sofort mit dem Publikum eine Verbindung aufbaut. Der herbe, ausdrucksstarke, besonders in der tiefen Lage charakterstarke Klang seiner Geige füllte den Saal und riss das Publikum mit. Dass Kavakos stellenweise ein etwas rascheres Verständnis dieses Brahms-Konzerts an den Tag legte, als Honeck es sich vornahm, ließ das gemeinsame Zusammenspiel umso aufregender werden.
Mag das Bruckner-Jahr aus passé sein, seine Werken finden sich so präsent wie eh und je in den Spielplänen der europäischen Orchester. Nach diesem Abend bleibt zu hoffen, dass sich Manfred Honecks Name ebenso präsent in Verbindung mit der Interpretation weiterer Bruckner-Werke finden wird.

