Von der Seine an den Main: Alain Altinoglu, französischer Dirigent mit armenischen Wurzeln, wird mit der kommenden Wintersaison das hr-Sinfonieorchester Frankfurt als musikalischer Leiter übernehmen. Im aktuellen Gastkonzert aus dem Sendesaal des Hessischen Rundfunks, das wegen der Pandemie-Einschränkungen wieder ohne Publikum als Livestream gesendet wurde, hatte er ein vielversprechendes Programm mitgebracht, das von drei fast gleichaltrigen französischen Komponisten stammte und Anfang des 20. Jahrhunderts in der Pariser Ballettszene für Aufsehen sorgte: Paul Dukas, Erik Satie und Florent Schmitt sind nur wenige Jahre jünger als der 1862 geborene Claude Debussy, spiegeln in ihren Werken merklich dessen Einfluss durch impressionistische Klangfarben ebenso wider wie das Faible des Publikums der Pariser Salons und Concerts für orientalisches Kolorit, das auch Ravel, Roussel oder d'Indy teilten.
Schwergewicht des Abends und seltene Preziose des hierzulande viel zu wenig bekannten Florent Schmitt: La Tragédie de Salomé, seine rein instrumentale Ballettmusik zu einem Stück von Robert d’Humières, ist auch literaturhistorisch von Interesse. Während die Salomé-Geschichte in Richard Strauss’ gleichnamiger Oper auf dem Theaterstück von Oscar Wilde gründet, der Salomés dieserart nicht-biblische Figur mit ihren grellen erotischen Neigungen zu Jochanaan ins Zentrum rückt, versucht d’Humières, Salomé teilweise zu entschuldigen und ihr eine Opferrolle zu geben, in der sie zunächst von ihrer Mutter zum Tanzen gezwungen wird. Sie will die Hinrichtung des Propheten nicht, stößt sein Haupt entsetzt weg, wird danach von Angstzuständen verfolgt, die sie in Schuldgefühle treiben und später zerbrechen. Schmitts Ballett, für ein kleines Orchester von zwanzig Spielern im November 1907 vollendet, wurde begeistert aufgenommen und lief fünfzig Vorstellungen lang. 1909 schuf er eine einstündige symphonische Suite für großes Orchester, die etwa die Hälfte der Originalmusik enthält und nun auch in Frankfurt zu hören war.
Florent Schmitts Salomé wurde zu einem der prunkvoll-glühendsten Orientbilder in der französischen Fin-de-siècle-Musik: bei Alain Altinoglu entwickelte sie eine rauschhafte Sogkraft in musikantisch plastischer Vollendung; die an allen Pulten hervorragend besetzten Sinfoniker setzten die Klangvisionen auch ohne die visuelle Komponente der Balletthandlung mit imaginierender Kraft, Begeisterung und Finesse adäquat um. Tiefe Bläser und Streicher begannen im Prélude, malten ohne Strenge eine melancholisch verhangene Stimmung, die an Debussy denken ließ und in herrlichem Dialog von Englischhorn und vergoldeter Flöte mündete. Ein kurzes Aufbäumen der Streicher weckte Bilder einer orientalischen Nacht, die vor unterdrückter Leidenschaft bebt und das Drama in Gang setzte. Der Danse des perles entspricht Salomés erstem Tanz vor Herodes, gelang in seiner wechselvollen Orchestrierung kontrastreich, vor allem in den dissonanten harmonischen Empfindungen, die durch die bitonale Kombination übereinanderliegender Akkorde erreicht wurden. Süffige Streichergirlanden und Harfenarpeggien illustrierten den aufziehenden Sturm mit sich verdüsternder tragischer Stimmung in Les enchantments de la mer. Im abschließenden Danse de l'effroi, Salomés letztem rasenden Tanz des Schreckens, strebt sie danach, den sie verfolgenden Visionen von Blut und Zerstörung zu entkommen; eine finale Apotheose mit Vokalisen einer unsichtbaren (und leider ungenannten) glutvoll gestaltenden Solosängerin wurde zum bewegenden Höhepunkt, gepaart mit dem Durchlauf ungewöhnlicher rhythmischer Formationen zwischen dreieinhalb Vierteln und neun Achteln, die Schmitt zu kurzen kumulativen Ostinati zusammenfasst: das ließ durchaus Strawinskys orgiastische Beiträge für die Ballets russes vorausahnen.
Mit Paul Dukas' Fanfare aus der Tanzdichtung La Péri hatte die Brass-Section des Orchesters klangschön und würdevoll begonnen. In Eric Satie's Gymnopédies (Nr. 1 und 3, orchestriert von Claude Debussy) modellierte Altinoglu, ohne Forcierung und in klarer Gestik leicht schwingender Zeichengebung, das Morbide und Lasziv-Verruchte dieser kurzen Szenen, deren seltsam verführerische, fast monoton-entwicklungslose Eingebungen sonst nur Klavierabende würzen.
Trotz mangelnder redaktioneller Begleitung wie fehlender Einblendung der Satzbezeichnungen in der Tragédie: ein programmatischer Abend, dessen Musikmenü feinste Leckerbissen für die internationale Livestream-Community bereithielt. Auf Altinoglus weitere Zusammenarbeit mit dem HRSO darf man also wirklich gespannt sein!
Die Vorstellung wurde vom Livestream des hr-Sinfonieorchesters rezensiert.