„Barock wird ja mittlerweile in jedem Kaufhaus gespielt!“ Nach diesem Satz von Martin Haselböck, gefallen in der Einführung zu seinem Konzert mit dem HR-Sinfonieorchester, wirft nicht nur mein Begleiter mir einen irritierten Seitenblick zu. Es mag wohl stimmen, dass Barock-Inszenierungen in den letzten Jahren zu einem mitunter skurrilen Hype avanciert sind. Auch arbeiten sich Originalklang-Ensembles (wie das Freiburger Barockorchester) mit ihrem Repertoire in immer jüngere Epochen vor. Zu einem Kaufhausschlager im klassischen Konzertbetrieb macht das die Generalbassmusik jedoch noch lange nicht – vor allem nicht im Repertoire eines Rundfunk-Sinfonieorchesters aus modernen Instrumentalisten.
Dass jenes Label „Barock“ jedoch auch hier, jenseits von Kult und Fetisch um historische Aufführungspraxen und jenseits des Kaufhauses seine Wirkmacht entfaltet, zeigt die Konzertreihe „Barock +“ des hr-Sinfonieorchester. In ihrer letzten Ausgabe dieser Saison dirigierte Martin Haselböck am 24.06.2016 eine gemischte Tüte aus Bach, Cembalo und nach-romantischen Komponisten mit reichem, barocken Erbe.
Den Anfang machte das zweifelsfrei berühmteste wie „barockeste“ Werk des Abends, das sogenannte Erste Brandenburgische Konzert von Johann Sebastian Bach. Nicht nur sind über Bachs Six Concerts avec plusieurs instruments (Sechs Konzerte mit mehreren Instrumenten) Regalkilometer publiziert worden, seit ihnen der Bachforscher Philipp Spitta ihren mittlerweile geläufigen Beinamen verlieh. Die Stücke erfreuen sich seit den 1930er Jahren auch einer steten Beliebtheit bei Orchestern. Unser Hörbild der „Brandenburgischen“ bestimmen heute sicher Aufführungen und Aufnahmen mit historischen Instrumenten, die sich ab den 1980er Jahren explosionsartig vermehrten. Umso erfrischender kann es sein, das am größten und festlichsten besetzte erste Konzert wieder einmal auf modernen Instrumenten zu hören.
Haselböck tat dem Orchester mit dieser Aufgabe jedoch keinen Gefallen. Eine souveräne, frische und mitreißende Interpretation wollte an diesem Abend nicht gelingen; stattdessen schleppte und wackelte es zur Genüge. Besonders die Hörner zeigten sich mit Haselböcks ehrgeiziger und unnachgiebiger Tempovorstellung im ersten Satz überfordert. Auch die Streicher prägte trotz äußerst stabiler Continuogruppe (Cembalo: Jory Vinikour, Fagott: Carsten Wilkening) an zu vielen Stellen Uneinigkeit. Zwar konnte Solo-Oboist José Luís García Vegara durchweg mit Ausdruck und Präzision begeistern, insgesamt blieb von diesem Stück jedoch ein schwerfälliger Eindruck im hierfür auch sicher nicht besonders schmeichelhaften Sendesaal kleben.
Kein Vergleich dagegen die darauffolgende Petite symphonie concertante des Schweizer Komponisten Frank Martin. Die Interpretation des Werkes für Harfe, Cembalo, Klavier und zwei Streichorchester überzeugte mit ungeahnter Energie. Hatte Martin sich mit dieser Komposition die Aufgabe gestellt, „alle noch heutzutage gebräuchlichen Saiteninstrumente zu verwenden“, so fügten die Solisten Jory Vinikour (Cembalo), Anne-Sophie Bertrand (Harfe) und Gottlieb Wallisch (Klavier) ihre jeweiligen Instrumente zu aufmerksam ausgearbeiteten und äußerst reizvollen Klangkontrasten zusammen. Dabei schlägt nicht nur das Cembalo eine Brücke zum vorangegangenen Bach. Martin gießt seine Komposition in barocke Formen und gliedert die Petite symphonie concertante in zwei ohne Pause aufeinanderfolgende Großabschnitte mit jeweils einer Introduktion und einem Allegro. Der Komponist vergleicht dabei das Allegro mit einem barocken Konzert, das geprägt ist durch den Wechsel von solistischen Episoden und dem ritonellartig immer wiederkehrenden Orchester-Tutti. In letzteren Passagen bestachen auch die Streicher neben den Solisten durch Akkuratesse.
Ebenfalls schlüssig gelang das Concert champêtre von Francis Poulenc für Cembalo und Orchester. Die neobarock anmutende Komposition wahrt die traditionelle Satzfolge eines Konzerts: Zwei schnelle Sätze von motorischem Bewegimpuls umrahmen ein elegisches Siciliano im typischen 6/8-Takt. Während der agile Solist Vinikour das Orchester ein ums andere Mal abzuhängen drohte – nicht zuletzt ein Versäumnis Haselböcks – meisterte das in Blech und Schlagwerk überraschend opulent besetzte Orchester die Begleitung des im Klangvolumen eingeschränkten Soloinstrument. Das liegt auch an der raffinierten Orchestrierung Poulencs. Er komponiert ein Stück, das immer wieder irritiert, indem es das freigelegte Cembalo mit barocken Hörgewohnheiten brechen lässt. Durch Dissonanzen modernisierte Harmonik, völlig unbarocke melodisch-akkordische Figurationen – all das klang bei Vinikour nach einer Irritation, die einen Heidenspaß macht.
Die Sinfonia grosso in D-Dur von Johann Gottlieb Graun beschloss den Abend. Der zeitlebens in den Schatten seines jüngeren Bruders Carl Heinrich Graun verdrängte Johann Gottlieb wird trotz seines einflussreichen Wirkens am Berliner Hof Friedrichs II. von Preußen auch bis heute kaum wahrgenommen. Sein gesamtes Werk fällt in eine Übergangsphase zwischen Spätbarock und dem empfindsamen Stil der Frühklassik. Exemplarisch hierfür ist die Sinfonia grosso: durchaus fortschrittlich komponiert, trotz der barock anmutenden Klanglichkeit. Im Vergleich zu den anderen drei Stücken jedoch blieb das Stück beinahe gefällig zurück, von der unspektakulären Kurzweiligkeit einer Zugabe. Derart dankbar und heiter entließ ein tänzerisches Allegro scherzando das Publikum in den Sommerabend.
„Das hab ich jetzt aber wirklich noch nie im Kaufhaus gehört!“, bekräftigt mein Begleiter. Das wäre fürs Kaufhaus ja auch wirklich zu schade, denke ich.