Der Vorhang öffnet sich und auf der Bühne erscheint ein riesiges Panoptikum – ein Ort der maximalen Überwachung. Sinnbildlich für ein System, in dem einige wenige ein ganzes Volk lenken und unterdrücken. Die Unausweichlichkeit vor dem allsehenden Herrscher- oder Staatsapparat ist ein starkes Auftaktbild für Modest Mussorgskis Oper Boris Godunow. Eine Oper, die gerade heute einen politischen Auftrag erfüllen muss: Aufzuzeigen, wie ein System, das sein Volk seit Jahrhunderten unterdrückt und nicht erst seit dem stalinistischen Terror eine Herrschaft der Angst nach innen wie nach außen ausübt.

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Alexander Tsymbalyuk (Boris Godunow) und Michael McCown (Gottesnarr)
© Barbara Aumüller

Der Regisseur Keith Warner versucht an der Oper Frankfurt diesem Auftrag in zeitloser, allgemeingültiger Weise gerecht zu werden. Er hat ein Händchen für assoziative Bilder, die politische Willkür, die Gier nach Macht und den moralischen Bankrott eines Systems darstellen, ohne zu sehr Bezug auf einen einzigen historischen Machtapparat zu nehmen. Seine Botschaft ist eindeutig: Alle Diktaturen ähneln sich in ihren Mechanismen – im Kult der Überwachung, in der Selbsterhaltung ihrer Macht und der ebenso rituellen wie unausweichlichen Überdehnung ihrer Wahrheiten.

Alexander Tsymbalyuk (Boris Godunow) © Barbara Aumüller
Alexander Tsymbalyuk (Boris Godunow)
© Barbara Aumüller

Ästhetisch springen er und sein Kostüm- und Bühnenbildner Kaspar Glarner zwischen grauer Sowjet-Tristesse und zaristischem Folklore-Kitsch. Diese bewusste Reibung schafft einen visuellen Sog: ikonenhaftes neben Kargem, opulente Ornamente neben funktionaler Gefängnisarchitektur. Dazu treten groteske Elemente, die sich jedoch nie verselbstständigen, sondern wie komische Masken im Dienst eines zutiefst tragischen Geschehens stehen. Hinter jeder Überzeichnung lauert ein Schlagstock; hinter jedem absurden Moment die rohe Brutalität des Regimes.

Frankfurt zeigt den Schostakowitsch-Boris – die längste und zugleich dramatischste Fassung dieser Oper. Dmitrij Schostakowitsch hat Mussorgskys Musik nicht nur ergänzt, sondern mit jener orchestralen Schärfe aufgeladen, die auch sein eigenes Werk prägt. Die Wucht des Blechs, die düstere Farbigkeit der Holzbläser, das massiv eingesetzte Schlagwerk und das charakteristische Glockenidiom formen ein Klangbild, das unmittelbar politische Prägnanz und Dringlichkeit evoziert. Diese Instrumentierung verleiht dem Werk eine unbarmherzige Aktualität, die heute fast unheimlich zeitlos wirkt.

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Boris Godunow
© Barbara Aumüller

GMD Thomas Guggeis leitete das Frankfurter Opern- und Museumsorchester mit klarer, hochkonzentrierter Zeichengebung. Der durch Guggeis auf langsame Tempi ausgerichtete erste Akt ließ den Klang atmen und bot Raum für feine Schattierungen – besonders in den Tiefen der Streicher und der oft unheilvoll grollenden Blechakkorde. Die Erzählung des Mönchs Pimen war dabei ein Ruhepunkt, ein Moment, in dem die Zeit gleichsam stillzustehen schien und in dem Guggeis die düsteren Linien der Partitur mit einer fast liturgischen Ruhe entfalten ließ.

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Michael McCown (Gottesnarr)
© Barbara Aumüller

Mit fortschreitender Handlung zog er das Tempo an und entfesselte die Partitur mit einer virtuosen Selbstverständlichkeit, ohne jemals die Präzision zu opfern. Die orchestrale Dichte, die Schostakowitsch fordert, wurde hier nicht als Massivität verstanden, sondern als erzählerisches Werkzeug: Klänge wurden übereinander geschichtet, nicht überdeckt. Besonders eindrucksvoll gelang die Darstellung der Massenszenen, in denen das Orchester immer wieder erzählend hervortrat – ebenso kommentierend und ironisierend, wie auch warnend.

Der Chor der Oper Frankfurt, unterstützt durch Extrachor, Kinderchor und zahlreiche Statist*innen ist ein zentraler Bestandteil dieser Inszenierung. Unter der Leitung von Álvaro Corral Matute gelang die Einbindung der Chöre vorbildlich. So waren die Volksmassen nie bloß Staffage, sondern handelnde Instanz: Mal aufgebracht und roh, mal eingeschüchtert, mal hoffnungsvoll – und stets Teil eines kollektiven Dramas, das die Tragödie des Einzelnen übersteigt und in charaktervollen Stimmen die Partitur erlebbar macht.

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Dmitry Golovnin (Grigori Otrepjew) und Andreas Bauer Kanabas (Pimen)
© Barbara Aumüller

Auch die Besetzung der 16 Solist*innen, überwiegend aus dem hauseigenen Ensemble, erwies sich als Glücksgriff. Die Partitur verlangt nach einer Vielzahl charakteristisch gezeichneter Figuren, die jeweils ihre eigenen Farben einbringen müssen. Allen voran sang Alexander Tsymbalyuk die Titelrolle überaus souverän, mit kraftvoll-expressivem Bass und einer beeindruckenden Balance aus Herrscherpose und psychischer Fragilität. In seiner großen Wahnsinnsszene schöpft er aus einem nahezu unerschöpflichen Repertoire an Farbschattierungen: Der Klang wird dunkler, bedrohlicher, fast entblößt, ohne jemals die Linie zu verlieren. Sein Boris ist weniger ein blutrünstiger Tyrann als ein Mann, der an der eigenen Schuld zerbricht – und gerade dadurch zur tragischen Figur wird.

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Alexander Tsymbalyuk (Boris Godunow) und Karolina Makuła (Fjodor)
© Barbara Aumüller

Ihm ebenbürtig ist der raumgreifende, monumentale Bass von Andreas Bauer Kanabas, dem Guggeis dank seiner Interpretation Entfaltungsräume gibt, die er auszunutzen weiß. Als Mönch Pimen ist er nicht nur Chronist, sondern zugleich Zeuge und Gewissen der abscheulichen Tat und erzählt von dieser mit einnehmend düsterer, wie gleichsam schöner Interpretation.

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Michael McCown (Gottesnarr)
© Barbara Aumüller

Die Besetzung wird abgerundet von einem stimmschönen Fjodor, gesungen von Karolina Makuła, AJ Glueckert als exzentrisch überspitzter Fürst Schuiski und Claudia Mahnke als ausgelassene Schankwirtin. Dmitry Golovnin verkörperte den falschen Zarensohn und Thronfolger Grigori mit nahezu unschuldiger, selbstüberlistender Konviktion und jugendlich, strahlendem Tenor mit vokaler Flexibilität. Ebenso hinterließ Sofija Petrović in der Rolle der Marina Mnischek, als betörend schöne wie berechnende Opportunistin mit kühl eleganter Sopranstimme.

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Karolina Makuła (Fjodor) und Anna Nekhames (Xenia)
© Barbara Aumüller

Bei der Krönung des falschen Dmitri schlüpfen überall auf der Bühne edle Gewänder aus ihren Eiern – die Geburtsstunde ein neues Zarenreichs. Aus dem letzten Ei steigt der Gottesnarr (charaktervoll und einnehmend dargestellt von Michael McCown). Als moralisches Gewissen Russlands klagt er an und mahnt: Was hier ausgebrütet wird, verheißt nichts Gutes. Es ist ein Boris, der nicht nur gesehen, sondern durchlitten werden will.

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