Corona und Quarantäne: während die Musikliebhaber in Deutschland ihre neu gewonnene Konzert-Freiheit genießen, zwang das Ansteigen einer Virus-Variante in Großbritannien Sir John Eliot Gardiner zur Absage seines Dirigats beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Umso erfreulicher war es, dass kurzfristig Aziz Shokhakimov, 33-jährige Usbeke und designierter Chefdirigent des Orchestre Philharmonique de Strasbourg, gewonnen werden konnte. Der Preisträger beim Gustav-Mahler-Dirigentenwettbewerb 2010 der Bamberger Symphoniker und bei den Salzburger Festspielen 2016 debütierte nun mit Chor und Symphonieorchester des BR, was eine Programmänderung zur Folge hatte.
Schön war es, dass Sir John Eliot zumindest mit der eigenen Bearbeitung eines Chorwerks von Johannes Brahms mitten im musikalischen Geschehen im Gasteig zugegen war: dessen Geistliches Lied, Op.30 ist 1856, im Todesjahr Robert Schumanns, entstanden, als Brahms unter Krankheit und Tod seines ehemaligen Freunds und Mentors litt. Der protestantische Barockdichter Paul Fleming hatte in seinem dreistrophigen Gedicht gemahnt, sich nicht allein der Trauer zu überlassen und fest auf Gottes Führung zu vertrauen. Melancholie und Hoffnung, unter dem Eindruck von Studien an Palestrinas altem Kompositionsstil: Brahms hat sein Geistliches Lied, nur etwa sechs Minuten lang, selbst so geschätzt, dass er ihm eine eigene Opuszahl gab. Gardiner hatte die ursprüngliche begleitende Orgelstimme auf ein Streichorchester übertragen; im Gasteig spielte ein Streichersextett diesen Part, die Sängerinnen und Sänger des BR-Chores, von ihrem früheren Chef Peter Dijkstra bestens vorbereitet, hatten sich auf der Bühne weiträumig verteilt. Aziz Shokhakimov formte die langen auf- und abschwingenden Legatobögen der Ode sorgfältig mit bloßen Händen, sehr vertieft und spannungsreich in ihrem langsamen Fortschreiten. In den Zwischenspielen konnten die Streicher Statur einbringen, die polyphone Stimmung weitertragen.
Etwas unvermittelt schloss sich Brahms' Akademische Festouvertüre an, fünfzig Opusnummern und fast ein Vierteljahrhundert später geschrieben, als er mit dem heiteren Potpourri gängiger Studentenlieder sich bei der Universität Breslau für seine Ehrendoktor-Würde bedanken wollte. Federnd, mit markanten Armschwüngen und kantigen Kopfbewegungen führte Shokhakimov das Orchester durch Romantisch verklärte wie mit Witz und praller Energie geladene Abschnitte dieser akademischen Sitzung.
Ob Antonín Dvořák in seiner Symphonie Nr. 9 e-moll eher indianisches oder tschechisches Kolorit zu Papier gebracht hat, beantwortete Shokhakimov anschließend auf seine Weise: Dvořáks „Neue Welt” wurde erobert, Temperamentsausbrüche und jugendlich zupackend dramatische Lesart bestimmten den Charakter der Aufführung. Negro-Spirituals und indianische Melodien gehören ebenso zu der exotisch scheinenden Symphonie wie kecker Klang aus Dvořáks böhmischer Heimat. Eine spannungsreiche Adagio-Einleitung gelang den Musikern des BRSO, Hörner und Klarinetten dann wunderbar im Wechsel im Allegro-Hauptthema wie bei einer böhmischen Polka; Flöte und Oboe mit dem zweitem eher amerikanischen Motiv, über das die Streicher slawisch anmutende Wehmut und Traummomente legten. Vielfältige Energien pulsierten in den gestochen scharfen rhythmischen Verschiebungen und den grell gezeichneten Dissonanzballungen, die Shokhakimov mit eruptiver Körpersprache herausmeißelte und vor allem Blechbläser und Becken zu virtuosem wie vordergründig fetzigem Klang ansteckte. Der Schluss mit dem siegreichen Hauptthema erstrahlte in Jubel und heller Lebenslust.
Durchaus tiefgründiger wusste Shokhakimov die leisen Bläserakkorde der Einleitung zum Adagio zu gestalten, eine schwermütige Legende zu erzählen, in die der unvergessliche Stimmungszauber des Englischhorns weich eingebettet war. Im Mittelteil reckten sich drohende Posaunenrufe auf mit dem Hauptthema des ersten Satzes, formulierten die Bläser fremdartig schillernde Tonbilder. Weicher Streicherglanz bestimmte den Ausklang des Satzes.
Robust begann das Scherzo, mit rhythmisch spitziger Melodie, die sich zu wildem Stampfen eines Tanzboden-Bildes steigerte. Herrlich wiegend und besonnen dann die friedliche Trio-Episode, die den Holzbläsern viel Raum für den Ausdruck strahlender Lebensfreude gab. Temperamentvoll schließlich das Finale, in dem Shokhakimov mit zupackendem Gestus scharfkantig, aber nicht unbedingt schroff die rhythmischen Finessen durchwandern und in die hinreißende Kraft der großen Schlussklimax münden ließ. Böhmisches Urgestein konnte auch in der Neuen Welt aufblitzen!