Sie kam, sang und siegte: Vera-Lotte Boecker, ehemaliges Ensemble-Mitglied der Wiener Staatsoper, sprang extrem kurzfristig für Hanna-Elisabeth Müller als Daphne ein, die krankheitsbedingt absagen musste, und lieferte eine stupende Leistung ab. Silbrig glitzernde Stimme, Höhensicherheit und ein langer Atem, sodass dem Publikum allein beim Zuhören die Luft wegbleibt. Strauss-Herz, was willst du mehr?
Die ehrliche Antwort: Ein moderneres Libretto, eine spannendere Inszenierung, besser einstudierte Blechbläser und schönstimmigere Hirten. Damit wäre der Abend perfekt gewesen, doch dazu später. Freuen wir uns erst einmal über eine der ganz großen Diven-Abende der jüngeren Zeit.
Von Boecker weiß man, dass ihre Kunst von Können kommt, und das wurde 2022 unter anderem mit der Verleihung des österreichischen Musiktheaterpreis für den besten weiblichen Nachwuchs gewürdigt. Der Sprung von Micaëla, Violetta und Gilda bis hin zu Strauss ist dennoch ein gewaltiger, auch wenn die keusche Daphne einen leichteren Sopran verträgt als ihre dreisilbigen Einakter-Schwestern Salome und Elektra. Und auch wenn Boecker diese Partie zu Jahresbeginn in Berlin gesungen hat, kommt man nicht umhin, sie für diesen spontanen Einsatz zu bewundern, denn ohne belastbares Gedächtnis wird man schon allein den Text nicht bewältigen können.
Dieser stammt von Joseph Gregor und verhält sich zu Strauss‘ sagenhafter Sagen-Musik wie ein plumpes altdeutsches Möbel (in Wien: „Pfeiferlbarock“) zu elegantem Art déco. Kaum zu glauben, dass der Freund von Stefan Zweig (welcher der politischen Umstände halber als Librettist nicht mehr zum Zug kam) Ende der Dreißigerjahre ähnlich – nur weitaus weniger inspiriert – wie Richard Wagner Jahrzehnte vor ihm schrieb.
Zum Glück verwarf der bereits dreiundsiebzigjährige Altmeister Strauss die Librettisten-Idee von Daphnes Transformation in einen Lorbeerbaum zu Hirtengesang und komponierte stattdessen einen würdigen Diven-Schluss. Die Partitur braucht in puncto Einfallsreichtum den Vergleich mit seinen anderen Werken nicht zu scheuen, allerdings herrscht statt der schwülen bis schwülstigen Erotik eine pastorale, naturnahe Grundstimmung, denn die Protagonistin schwärmt für Bruder Baum und Schwester Blume. Elektr(a)isch und gewaltbereit wird es mit dem Auftreten zweier Männer, die die Schäfer-Idylle am Fuße des Olymp stören.
Der eine heißt Leukippos (Daniel Jenz) und wirft sich in Frauenkleider, um Daphne nahe zu sein, doch als die Verkleidung fällt, bedrängt er sie übelst. Der andere ist Gott Apollo (David Butt Philip) – ein Schöner, aber kein besonders Guter, dafür hat er die größere, dramatischere Stimme. Mit beiden Tenören ist man vokal wie darstellerisch sehr gut bedient, sie haben kluge Krafteinteilung und künstlerischen Gestaltungswillen statt der „park & bark“ Darbietungen, die man in diesem Repertoire mehr als einmal erlebt hat. Apollo tötet Leukippos aus Eifersucht, doch das zahlt sich nur für das Publikum aus, das Daphnes ergreifende Klage genießt. Aus ihr und Apoll wird kein Paar, auch wenn sie davor von seinem „Bruderkuss“ nicht ganz unbeeindruckt war.