Die neue Norma-Inszenierung an der Wiener Staatsoper wurde zwar nicht ganz so enthusiastisch wie aufgenommen wie jene am Theater an der Wien, die kurz davor Premiere feierte und in der niemand Geringerer als Asmik Grigorian zu bewundern war. Sie hat aber einen Vorteil: Wer Belcanto mag, kann sich Bellinis Gallier- und Römer-Tragödie im Repertoire-System öfter zu Gemüte führen. In der zweiten Serie stellt sich nun die russische Sopranistin Lidia Fridman im Haus am Ring vor.

Der erste Eindruck war allerdings nicht der beste, denn für „Casta Diva“ bräuchte es einen weichen Gesangsbogen, auf dem sich sinnlicher Schmelz oder der kühle Glanz einer Mondnacht zaubern lässt, in der gallische Priesterinnen die heiligen Misteln schneiden. Für Glanz und Schmelz zeigt die dunkel grundierte, Vibrato-reiche Stimme jedoch zu viele feine Risse in diesem Tongemälde. Auf der Haben-Seite verbucht man gutes Volumen und Durchschlagskraft, mit der Fridman die dramatischen Attacken dieser Partie geradezu bestechend meistert. Im Laufe des Abends gewinnt auch ihr herbes, metallisches Timbre an Charme, das den mehrstimmigen Szenen mit ihren Bühnenpartnerinnen und -partnern angenehme Würze verleiht. Das Aufregendste an dieser jungen Sängerin ist aber sie selbst: Wie sie sich mit ihrem Charisma zum Dreh- und Angelpunkt des Geschehens macht, ist mehr als respektabel, das ist Diven-Material.
Mit Fridmans dramatischer und emotionaler Darstellung bekommt auch die Inszenierung, die in der Premierenserie von manchen als emotional unterkühlt erlebt wurde, eine ganz andere Grundspannung. Der Ansatz von Cyril Teste und seinem Regieteam, die Gallier als Kriegsflüchtlinge in einer Industrieruine Schutz suchen zu lassen, und den tristen Bau mit stilisierten Waldansichten zu kontrastieren, ist zumindest nachvollziehbar, und die Zwischenvorhänge lassen Einblicke in die jeweils andere Welt zu. Dieser Austausch zwischen friedlicher Natur und menschengemachtem Elend wird auch durch Live-Videoaufnahmen unterstützt, doch anders als bei der Salome-Inszenierung desselben Regisseurs sind sie in Norma überwiegend entbehrlich. Sie haben wohl den Zweck, die Präsenz der Kinder in Normas Leben zu zeigen, doch wird der Effekt dadurch geschmälert, dass die live gefilmten Kinder für die ihnen zugedachte Personenregie bereits zu groß bzw. alt sind.
Deren Schicksal scheint Bühnenvater Pollione wenig zu kümmern, denn dieser folgt lieber seinen (niederen) Instinkten und rechtfertigt seine neue Leidenschaft für Adalgisa als gottgegeben. Seine Liebe zu Norma ist hingegen erkaltet, aber die Konsequenzen der verbotenen Beziehung zwischen ihr, der Priesterin, und ihm, dem Prokonsul der römischen Besatzer, belasten in erster Linie sie. Die Handlung ist zwar ein paar Jahrzehnte vor Christi Geburt angesetzt, doch hat sich an der Grundproblematik von Beziehungen, die politische Grenzen überschreiten und gesellschaftliche Regeln brechen, wenig geändert. Verknüpft mit einer alltäglichen Katastrophe – dem Einsturz einer mühsam eingerichteten Familienstruktur – wirkt die Geschichte trotz einiger Ungereimtheiten vielleicht aktueller als zur Uraufführung 1831, als bürgerliche Beziehungen noch „lebenslänglich“ angelegt waren.
Als Pollione gefiel Freddie De Tommaso, der in dieser Saison (bis auf den Premierenabend an der Staatsoper) sämtliche Wiener Norma-Aufführungen mit seinem schmetternden Tenor ausgestattet hat – dieser passt auch perfekt zu dieser Figur und ihren stimmlichen Anforderungen. Dass ihn die Personenregie weitgehend im Stich lässt, ist vielleicht eine bewusste Entscheidung, weil Typen wie Pollione in erster Linie sich selbst spielen und die Durchsetzung ihrer Interessen in den Vordergrund stellen.
Adalgisa war Vasilisa Berzhanskaya, die mit Lidia Fridman ein starkes Frauenduo bildete und eine makellose Leistung ablieferte. Ildebrando d’Arcangelo (Oroveso) ist mit seinem markanten, volltönenden Bass immer ein Erlebnis, hätte aber bei seinem großen Auftritt im zweiten Akt von einem flotteren Dirigat profitiert. Anna Bondarenko und Hiroshi Amako machten das Beste aus ihren kleineren Partien (Clotilde und Flavio), und auch der Chor bewältigte seinen Part tadellos.
Mit Antonino Fogliani stand ein ausgewiesener Belcanto-Spezialist am Pult des Staatsopernorchesters, und die Ouvertüre gelang auch vielversprechend mit einigem Drama und leichtfüßigen Läufen der Streicher. Im zweiten Akt ließ die Spannung zwischen den emotional hochgepeitschten Stellen mitunter etwas nach und hätte einiges mehr Spritzigkeit vertragen. Allerdings behielt Fogliani die Zügel immer fest in der Hand und sorgte für jene Ordnung im Graben, die für die volle Wirkung der Gesangslinien unabdingbar ist. Viel Applaus daher für einen stimmigen Abend.