Was macht einen guten Menschen aus? Wie hält man es mit Gottesliebe, Selbstliebe und Liebe zur Menschheit? Märtyrertod und Selbstmordverbot – wo verläuft die Grenze? Der religiös geprägte Francis Poulenc war gefesselt von Georges Bernanos Textbuch Dialogues des Carmélites (das wiederum auf der historisch inspirierten Novelle Die Letzte am Schafott von Gertrud von le Fort beruht) und machte aus dem Stoff eindringliches Musiktheater.

Dialogues des Carmélites
© Michael Pöhn | Wiener Staatsoper

Protagonistin ist die angstvolle junge Blanche, die gegen den Willen ihres Vaters Karmelitin wird und dadurch noch mehr Angst erlebt: Die Französische Revolution bedroht die Kirche an sich, und ihr erstes Klostererlebnis ist das mühsame Sterben der Priorin Madame de Croissy. Die gegensätzlichen Weltsichten der neuen, lebensbejahenden Priorin Madame Lidoine und der Martyrium-affinen Mère Marie verunsichern sie zusätzlich, und sie entflieht dem Kloster, um letztendlich doch noch den für ihren Glauben sterbenden Mitschwestern zur Guillotine zu folgen.

Ève-Maud Hubeaux (Mère Marie), Nicole Car (Blanche de la Force) und Maria Nazarova (Sœur Constance)
© Ashley Taylor | Wiener Staatsoper

In der Inszenierung von Magdalena Fuchsberger an der Wiener Staatsoper steht Blanche allerdings mit blutbeflecktem Kleid vor der Szenerie, als wäre sie eine Heilige mit Wundmalen, und das ist noch eine der besseren Ideen dieser Inszenierung. Monika Bieglers Bühnenbild zeigt eine mehrteilige Pfosten- und Lattenkonstruktion auf einer Drehbühne und wird von einer kirchenfensterähnlichen Videowand mit überwiegend christlichen Symbolen ergänzt. Diese im Aufbau scheinende Konstruktion ist eine merkwürdige Wahl, da eine Revolution ja die Destruktion einer Ära zum Ziel hat. Sinnfälliger ist die Nonnenkleidung (Valentin Köhler), die für alle Schwestern individuell ist – bei ihrem Abgang sind sie zwar durch schwarze Gesichtsschleier unkenntlich, tragen aber unterschiedliche goldene Gloriolen und Kreuz-Ketten über dem schwarzen Einheits-Habit, in dem sie wie lebendig gewordene schwarze Madonnen wirken.

Schade nur, dass der ästhetische Effekt durch den recht unspektakulären Abgang aus dem oberen Bereich des Lattenverschlags verschenkt wird. Ansonsten probiert die Regisseurin einiges: Hier tanzt ein kämpferischer Schutzengel mit einem Kopfputz zwischen Asterix- und Bischofsmützenoptik, dort stehen ein paar unheimliche schwarze Tierfiguren, und ein Kinderkönig sitz irgendwo am Rand. Allerdings hat die Befeuerung der Sinne den Nebeneffekt, dass die Dialoge der Karmelitinnen nicht zu Dialogen mit dem Publikum werden, wo dies laut Barrie Kosky, dessen Sicht auf die Dialogues demnächst in Glyndebourne zu sehen sein wird, die Wirkung des Stückes ist oder sein sollte.

Michaela Schuster (Madame de Croissy) und Nicole Car (Blanche de la Force)
© Michael Pöhn | Wiener Staatsoper

Allerdings schafft es ein großartiges Sänger*innen-Ensemble, diese Distanz musiktheatralisch zu überbrücken und tief zu berühren. Das gilt zunächst einmal für Nicole Car, die eine ausgezeichnete, innerlich zerrissene Blanche gibt, obwohl sie ihre Diven-Stimme nicht unbedingt für die Partie eines zögerlichen Unschuldslamms prädestiniert. Höhepunkt des Abends war ihre Interaktion mit Maria Nazarova als Sœur Constance, die lieber stirbt als alt wird, und mit ihrer zwitschernden Lebensfreude ansteckend wirkte. Michaela Schusters Alt verlieh der Todesangst der Priorin profunde Tiefe und setzte damit ein weiteres Glanzlicht, auch wenn sie zum Outrieren neigte. Ève-Maud Hubeaux überzeugt als Mère Marie ebenso wie zuletzt als Carmen. Den Zwiespalt, ihre Mitschwestern aufs Märtyrertum eingeschworen zu haben, diesem jedoch selbst zu entgehen, stellt sie pantomimisch allein vor dem Vorhang dar. Interessant auch, dass sowohl sie als auch die alte Priorin in dieser Inszenierung gegen die junge Blanche übergriffig sind – wohl ein Hinweis auf die Missbrauchsthematik in der katholischen Kirche. Ganz anders gezeichnet ist die pragmatische Madame Lidoine, die von Maria Motolygina mit kraftvoller Stimme gegeben wird – eine vielversprechendes Hausdebütantin mit Potenzial für das dramatische Fach. Monika Bohinec und Daria Sushkova ergänzen das Schwesternensemble perfekt.

Dialogues des Carmélites
© Michael Pöhn | Wiener Staatsoper

Bei den Herren glänzte Bernard Richter mit mozarttenoraler Stimmführung als Blanches Bruder. Michael Kraus gab ein beeindruckendes Rollenporträt als ihr Vater, wohingegen Thomas Ebenstein als Beichtvater von den stimmgewaltigen Damen beinahe an den Rand gesungen wurde. Von den clownesk überzeichneten Revolutionären konnte sich Clemens Unterreiner noch am ehesten in Szene setzen.

Bertrand de Billy gilt als Experte in Bezug auf das Werk, trotzdem hätte Poulencs sinnliche Schwesternmusik um einiges mehr an Emotionalität und Rubato vertragen. Wenn die Idee hinter den strikten Tempi jene war, das Klosterleben als einförmig zu zeichnen, um die Zwischenspiele und das Finale umso großzügiger zu zelebrieren, ist sie zumindest aufgegangen. Für das vom Fallen des Guillotinenbeils gespenstisch unterbrochene Salve Regina, mit dem die Schwestern in den Tod gehen, braucht es auch zweifelsohne einen unerbittlichen Rhythmus.

Dialogues des Carmélites
© Michael Pöhn | Wiener Staatsoper

Am besprochenen Abend wirkte dieses grandiose Finale wie ein Negativbild zu Ravels nicht weniger grandiosem Bolero. So wie der ein gutes Vierteljahrhundert Jahre ältere Bolero steuert Poulencs Salve Regina unaufhaltsam einem Höhepunkt zu; statt eines gesamthaften Crescendo wird die Gesangslinie der Carmélites jedoch mit jeder Toten zwangsläufig dünner. Passenderweise ist dieses Salve Regina sogar in der Komplementärtonart a-Moll zum C-Dur des Bolero komponiert: Frauen und Mädchen sterben für ihre Überzeugung und einen Gott, der als männlich wahrgenommen wird, und beten doch zu Maria – in einer schlichten Tonart fern jeglichen Heldentums, aber mit innerer Größe, die niemanden kalt lässt. Schöner und schrecklicher hätte es Poulenc gar nicht ersinnen können.

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