Am Ende herrscht Stille in der bis auf den letzten Stehplatz gefüllten Philharmonie, nicht einmal ein Husten verirrt sich in den weiten Weinbergen am Berliner Tiergarten. Eine gute halbe Minute schweigt das Publikum, ehe der erste Jubel für das London Symphony Orchestra und seinen scheidenden Chefdirigenten Sir Simon Rattle, für den es nach Spree und Themse nun zur nächsten großen Station an die Isar geht, losbricht. Abschiedsangemessen wie kaum ein zweites ist folglich das Werk des Abends im Rahmen des Berliner Musikfestes, die Neunte Symphonie aus der Feder Gustav Mahlers.

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Sir Simon Rattle dirigiert das London Symphony Orchestra
© Fabian Schellhorn

Seine schiere Größe und weltatmendes Streben macht Mahlers Opus zu gern gewählten Werken für die besonderen Augenblicke. Während Rattle mit der Neunten leise „Goodbye“ sagt, wird Joana Mallwitz im Laufe der Woche ein paar hundert Meter weiter mit Mahlers Symphonie Nr. 1 ihre Zeit als Konzerthauschefin beginnen. Dabei lassen sich in der Interpretation des scheidenden Londoner Chefdirigenten weniger wehmütiger Weltenabschied denn existentielle Lebensfragen hören. Womöglich passt das zu Rattles fünf Jahren in der britischen Hauptstadt, die von Brexit, Pandemie und Budgetkürzungen geprägt waren.

Von beginnt an wählt der Dirigent ein straffes Tempo, statt sich des morbiden Charmes der Komposition hinzugeben, und schafft damit eine unerwartete Durchsichtigkeit. Das klingt ganz anders als noch vor einem halben Jahr als der Brite die gleiche Symphonie mit der Staatskapelle Berlin ebenfalls in der Philharmonie zum Besten gab und in dunkler Melancholie schwelgte. Hier ist ein lichter und lebensbejahender Mahler zu hören, der Klang insbesondere der Streicher wirkt schmerzvoll-lamentierend, nicht traurig-resignierend. Fein abgestimmt sind die verschiedenen Instrumentengruppen, vielfältige Details sind zu hören. Immer wieder betont Rattle dabei die schroffe Klanglichkeit und somit die Modernität des Werkes. Wenig weist zurück, vieles in die Zukunft. In Perfektion treibt der Dirigent das Orchester voran, ehe sie gegen Ende des ersten Satzes durchschlagkräftig in den Abgrund stürzen. Der Druck entlädt sich im Fortissimo.

Geisterhaft und nahezu unheimlich sind folglich Ländler und Rondo-Burleske. Wenig Sentimentales schwingt in der Interpretation dieser Sätze mit, fokussiert streben das London Symphony Orchestra und sein Dirigent immer weiter, dem unausweichlichen Ende entgegen. Sanfte Klänge, letztes Aufbäumen – das finale Adagio mag man an anderer Stelle ergreifender gehört haben, doch bei Rattle stellt es Fragen und wirkt ungewohnt hoffnungsvoll. So scheint diese Neunte von Mahler kein Abschied für immer, sondern ein Horchen nach dem Neuen zu sein. Ist es wirklich schon vorbei – oder kommt da noch etwas? Man darf gespannt sein, wohin die Wege führen werden. Für britische Kulturinstitutionen im Allgemeinen, aber auch für Sir Simon Rattle in neuer Position in München. An diesem Abend in Berlin erhalten sie gemeinsam zum Abschluss ihrer Zusammenarbeit stehende Ovationen.

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