Seit nunmehr 50 Jahren ist es ein hochwillkommenes Anliegen der Ernst von Siemens Stiftung, im Rahmen ihres Kultursponsorings von Musikausübenden und Konzertprojekten insbesondere die zeitgenössische Musik zu fördern. Mit der 2016 gemeinsam mit der Münchner musica viva des BR-Symphonieorchesters und Lucerne Festival ins Leben gerufenen „räsonanz–Stifterkonzertinitiative“ ermöglicht sie außergewöhnliche Gastspiele internationaler Spitzenorchester mit zeitgenössischer Musik. Anlässlich dieses 50-jährigen Jubiläums fand nun ein herausragendes Gastkonzert in der Münchner Isarphilharmonie statt: erstmals waren die Berliner Philharmoniker unter ihrem Chefdirigenten Kirill Petrenko, ehemaliger musikalischer Direktor der Staatsoper, zu Gast in München, mit Christian Gerhaher als Starsolisten und einem maximal anspruchsvollen Programm aus Werken des 20. und 21. Jahrhunderts.

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Christian Gerhaher und Kirill Petrenko mit den Berliner Philharmonikern
© BR | Astrid Ackermann

Dass die Philharmoniker und Petrenko bei der kürzlich veröffentlichten Bachtrack-Umfrage unter internationalen Kritikern beide jeweils in ihren Kategorien den Spitzenplatz belegten, wurde zum zusätzlichen Reiz, auf diesen Konzertabend gespannt zu sein; erst recht nachdem dieses Programm zwei Abende zuvor in der ausverkauften Scharoun-Philharmonie beim Musikfest Berlin bejubelt worden war.

Auch in München war die Isarphilharmonie bis zum letzten Platz gefüllt; erfreulich war die offensichtliche Durchmischung der Generationen, die deutlich macht, dass sich Jung und Alt gleichermaßen um den selbstverständlichen Umgang mit zeitgenössischer Musik bemühen. Dicht gefüllt war auch das Podium; zusätzlich vorbereitete Podeste für die ersten Geigen mussten sogar für Auf- und Abtritt von Petrenko immer wieder verschoben werden.

Mehr als 100 Musiker, davon allein 70 Streicher, nahmen auf dem Podium Platz für Iannis Xenakis' Jonchaies aus dem Jahr 1977. Den Titel kann man mit Binsendickicht oder Röhricht übersetzen, lässt an Bilder aus Uferwelten denken. Schleifsequenzen der Streicher könnten an aufsteigende Vogelschwärme erinnern, rhythmisches Staccato an Vogelrufe; sie bauten eine Empfindung von Naturstimmungen auf, könnten dichte Mückenschwärme oder scharfkantiges Schilfrohr widerspiegeln. Wohlgemerkt könnten: denn Xenakis war ja ursprünglich auch Ingenieur und Architekt; an bizarre Bauwerke erinnern diese Jonchaies durchaus. Eher Zustände als Entwicklungen, wie auf mathematischer Grundlage entworfen, oft statisch in Ton-Konglomeraten, blitzenden Glissandi, maschinenhaften Motivrepetitionen, der enormen Kraftentfaltung. Keine moderne „Pastorale“ mit der Szene am Bach, der die romantische Verklärung abgeht: Vielmehr baute Petrenko mit dionysischen Klangwallungen eine Körperhaftigkeit, eine drängend dynamische Dreidimensionalität, die einen ansprang und erneut auf Xenakis' Tätigkeit als Architekt verwies, am Ende wieder in eine friedvolle Naturszene zurückfand.

Als klanglich durchaus verwandt zeigten sich die Orchesterstücke Lég-szín-tér des 1975 geborenen Ungarn Márton Illés, die an diesen Konzertabenden uraufgeführt wurden. Wörtlich übersetzt bedeutet ihr Titel „Luft-Farbe-Raum“: im Spiel mit Luft und Leichtigkeit entstehen Klangtropfen, umspielt von hohen Bläserfrequenzen; Motivik oder Rhythmik bleiben immer nur kurz im Vordergrund, entschweben wieder. Im Orchester werden die Instrumente oft nur mit leichtem Druck angestrichen oder „beatmet“, zwischendurch finden sich flüchtige Klänge zu mehr oder weniger großen Ballungen zusammen, manchmal auch in scherzhaft erscheinendem Tonfall. Wie an einem Klangufer bauten sich lange schwingende Wellen auf, entschwanden wie ein Hauch. Sogar ein Akkordeon mischte schwer zu ortende Klangfarben hinzu. Mit sichtbarer Freude am Detail ziselierte Petrenko diese Miniaturen, deren dichtes Gespinst von Geigenweben, irisierendem Trompetenquäken, keckem Gelächter von Holzbläsern am Ende verklang: Illés' Kunst des Moments, die virtuose Berliner Philharmoniker unter Petrenko feinfühlig immer wieder in die Un(be)greifbarkeit entließen.

Der von Karl Amadeus Hartmann in seinem Todesjahr 1963 zur Vertonung gewählte apokalyptische Ausschnitt zur Gesangsszene aus „Sodom und Gomorrha” von Jean Giraudoux, in dem vom plötzlichen, unerwarteten Untergang einer hoch technisierten, für perfekt gehaltenen Welt die Rede ist, erwuchs durch Christian Gerhahers Interpretation zu eindringlicher, Schrecken erregender Plastizität. Hartmanns Lebensweg ähnelt dem von Schostakowitsch; im Ringen mit der Nazidiktatur schrieb er verschlüsselte Bekenntnismusiken, starb in innerer Emigration, aus der er viel zu selten in die Konzertsäle zurückgeholt wird; dabei sind Sorgen zum „Wogenprall im Krieg aller Kriege“ im heutigen Zeitpanorama aktueller denn je.

Eingeleitet von einem nachdenklichen Flötensolo (wundervoll Sébastian Jacot), zu dem Streicher und Bläser in längerem instrumentalem Abschnitt treten, steigerten sich die Musiker zu rhythmisch mahnender Prägnanz, mit schrillen Trompetensoli wie weissagenden Zurufen, textlich von apokalyptischer Wucht, gemischt mit ironischen wie sarkastischen Tönen. Das wuchtige Werk mündet in zunehmende Verdüsterung, in die Gerhaher, in singulärer stupender Vielfalt seiner vokalen Ausdrucksmittel, ideal mit dem Orchester korrespondierte, wie 60 Jahre zuvor Dietrich Fischer-Dieskau, der die Uraufführung der Gesangsszene gesungen hatte. „Es ist ein Ende der Welt! Das Traurigste von allen ...“: Hartmann lässt den Sänger in äußerster Steigerung den frappierenden Schlusssatz als Sprechpassage vortragen, mit der Christian Gerhaher ergreifend das Publikum ebenfalls atemlos zurückließ.

Wie bei Mahler schimmern in György Kurtágs Stele viele Bezüge zu klassischen Werken durch, werden zu wohlbekanntem, expressivem Vokabular. 1994 hatte er es als Auftragswerk der Berliner Philharmoniker und Claudio Abbado komponiert. Das knappe Lamento ist von der Besetzung eine raumgreifende Angelegenheit, wieder füllte eine Hundertschaft des Orchesters die Bühne.

Drängende Bässe steigerten sich zu dichter Klangmischung, Peitschenknalle treiben die Metamorphose an, die mit heulenden Blechbläser-Rufen und verhallenden Flötensoli voranschreitet. Streicherwogen schienen wie ostinate Glockenschläge die Überfahrt ins Totenreich zu begleiten, Blechbläser illusionierten in verwischten Chorälen. Ruhe wurde zum Puls eines transzendenten Lebens: eine faszinierende Begegnung mit dem hinreißenden Orchester und ihrem immerfort beflügelnden Dirigenten!

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