„Wenn man mit der Interpretation eines Werks an die Öffentlichkeit geht“, so Daniele Gatti, „dann sollte sie Neues transportieren, sie sollte neue Perspektiven auf das Werk ermöglichen... insbesondere wenn es sich um Musik handelt, die wir alle bestens kennen.“ Ein schöner Satz, den viele Dirigenten äußern könnten. Besonders schön ist er aber, weil Gatti in seinem jüngsten Konzert mit den Berliner Philharmonikern genau das gelungen ist.

Eröffnet wurde der Abend allerdings mit einem eher unbekannten Werk. Nie zuvor hatten die Philharmoniker Anton Weberns Langsamen Satz von 1905 gespielt, auch nicht in der von dem amerikanischen Komponisten Gerhard Schwarz eingerichteten Fassung für Streichorchester. Gatti hatte vor knapp zwei Jahren Schönbergs Verklärte Nacht mit großem Sinn für differenzierten Streicherklang in Berlin dirigiert, und auch diesmal gelang es zauberhaft, vor allem die Stelle am Ende der Reprise, wo die Bearbeitung das originale Quartett spielen ließ.
Im Zentrum des Abends wich der romantische Mischklang dem messerscharf artikulierten Spaltklang in Strawinskys Symphonie in C. Gatti hatte ein gutes Gespür für Tempi, legte großen Wert auf eine durchhörbare Instrumentation sowie die harte Gegenüberstellung verschiedener Register. Er präparierte Strawinskys rhythmische Diktion, etwa in den synkopierten Noten, präzise heraus. Dass er die Partitur dabei regelrecht trockenlegte, hätte dem Komponisten vermutlich gefallen, der seine Musik nicht interpretiert, sondern realisiert haben wollte. Die kurzen signalhaften Motive des Kopfsatzes ergaben im Zusammenhang einen mosaikhaften Setzkasten. Im zweiten Satz brachten die Könner an ihren Instrumenten (Albrecht Mayer, Emmanuel Pahud und Stefan Schweigert) nicht allein Kantabilität, sondern vor allem eine windschiefe Collage zu Gehör. Das Menuett im dritten Satz wurde zur Persiflage eines Tanzes mit ständigen Taktwechseln und mit einem Fugato, das mit größter Präzision musiziert wurde. Mit einem Choral, in dem Gatti die Zeit zum Stillstand brachte, ging das Werk zu Ende.
Mit Brahms’ Dritter Symphonie dirigierte Gatti ein Werk, das als Aushängeschild für die Dignität dieses Orchesters steht. Es gibt Kenner der Materie, die sagen, dass Abbado seinerzeit nicht zuletzt darum zum Chef der Philharmoniker gewählt worden sei, weil er im September 1989 eine Dritte dirigiert hatte, die niemand vergessen wird, der sie damals gehört hat.
Vom ersten Takt an machte Gatti deutlich, dass er dem Werk alle Gemütlichkeit auszutreiben gedachte. Die mittleren Sätze befreiten Gatti und das Orchester vom Klischee, bloße Intermezzi zu sein, die den Ecksätzen im Niveau zurückständen. Warm klang das zwischen Ballade und Choral ausbalancierte erste Thema des zweiten Satzes, fahl das zweite, das seine Rolle im Finale noch zu spielen hatte. Im Poco allegretto sorgte ein latentes Ritardando dafür, dass sich keine Sentimentalität über den Valse triste ausbreiten konnte.
Jede Aufführung von Brahms’ Dritter Symphonie steht und fällt mit dem Finale. Nicht übertrieben düster, aber doch dunkel ließ Gatti das Unisono-Thema sich Gehör verschaffen, bevor das zweite Thema des zweiten Satzes sich fahl und fremd in Erinnerung rief. Schritt für Schritt steuerte die Aufführung auf eine Kulmination zu. Wer das Werk nicht kannte, wurde auf die falsche Fährte gesetzt. Wer um den Ausgang wusste, durfte die Souveränität bewundern, mit der die angepeilte Apotheose letztlich umgebogen wurde.