Wenn Kammermusik-Formationen über Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg miteinander musizieren, dann geschieht bisweilen das Wunder, dass die Interpretationen der immer wieder erprobten Partituren ein Eigenleben entwickeln, so als entstünden sie aus dem Moment heraus. Die textgetreue Wiedergabe ihres Repertoires ist den Künstlern so selbstverständlich in Fleisch und Blut übergegangen, dass aus Strenge und Disziplin plötzlich grenzenlose Freiheit wird. Gleichermaßen Improvisation durch größtmögliche Notentreue, spannend im doppelten Wortsinne.

Christian Gerhaher und Gerold Huber sind so ein Wunderpaar; derart perfekt aufeinander eingespielt, dass selbst der Pianist jedes Lied auswendig stumm mitsingt und umgekehrt Christian Gerhaher mit seinen Fingern die Klavierlinien nachzeichnet – oder besser vorzeichnet. Denn gerade die Antizipation der kleinsten Regungen ihres jeweiligen Partners lassen die musikalischen Zeitebenen verschmelzen. Grenzenlose Freiheit eben.
Gerhaher ist der Meister der kontrollierten Eruption, verfügt über ein schier unerschöpfliches Repertoire an Klangfarben, Diktion, Feinheiten der Phrasierung und an stimmlicher Gewalt, die innerhalb weniger Sekunden von farblosem Sprechgesang in inbrünstig raumfüllenden Opern-Belcanto changiert. Selbst wenn am Ende einer Phrase, beim Ausklingen des Tons seine Stimme metallen brüchig klingt, dann ist das gewollt – und gekonnt ohnehin. Nur in der Höhe kippt es manchmal, der Ton verdreht sich leicht ins Kehlige.
Beim Schumann-Liederabend bei den Salzburger Festspielen rezitiert Gerold Huber nicht nur stumm die Liedtexte, sondern er stimmt gar pianistisch in den Gesang mit ein. Zweitweise übernimmt er die lyrische Linie, während Gerhaher beredt schweigt, und dann wieder tönt er bewusst hölzern, während Gerhahers Stimme abhebt und weit ihre Flügel ausspannt. Wie die Seele in der Mondnacht, durch und durch erfüllt von purem Seelenfrieden. Wie nur gelangen Robert Schumann diese Werke von absoluter Reinheit in einer Zeit, in der körperliches Elend, schlechte Hygiene, Gestank und Siechtum das tägliche Leben prägten?
Den Fünf Liedern, Op.40 folgte der Liederkreis nach Gedichten von Joseph von Eichendorff, Op.39. Gerhaher beschreibt den Duktus dieser Lieder so: „Ich glaube, dass die Literatur von Anfang an das bestimmende Konzept in [Schumanns] literarischem Schaffen war.“ So steht auch bei Gerhaher der Text an Anfang und Ende der Interpretation. Wenn er in Die Stille singt: „Ich wünscht, ich wäre ein Vöglein“, dann streckt er plötzlich die Knie und hebt fast ab, um seinen herrlichen Tönen hinterherzufliegen in die Ränge des Hauses für Mozart, die an diesem Abend nicht besetzt waren. Liederabende sind und bleiben eben speziell.
Im Walde lassen Huber und Gerhaher eine Jagdgesellschaft auf der Bühne erscheinen, bevor plötzlich die Nacht Einzug hält und es dem Erzähler schauert. So auch dem Publikum ob der feuchtkühlen Klangfarbe, die Gerhaher plötzlich anstimmt. Die Frühlingsnacht wiederum war ein besonders hell glänzender Edelstein in diesem Sammelsurium der Kleinode. Dank Gerold Hubers Anschlagskunst vernahm man den Hain im Traume rauschen und jauchzt mit Schumann vor Freude über seine Liebe zu Clara: „Sie ist deine, sie ist dein!“
Es folgten die Drei Gesänge, Op.83 und die Romanzen und Balladen III, Op.53. In Blondels Lied ziseliert Gerold Huber die Basslinien fabelhaft unaufdringlich ausdrucksstark. Die Loreley säuselt zwar ein wenig zu farblos und gespenstisch, doch es folgt der Höhepunkt des Abends, die Sechs Gedichte nach Nikolaus Lenau. Gerhaher schreibt in seinem Lyrischen Tagebuch, dass das Publikum nach diesem Zyklus zumeist etwas unentschlossen und fast verstört zurückbleibt. Nicht an diesem Abend, denn die packende Spannung, mit der das Duo seine Zuhörer von der handfesten Lebenswelt des Schmieds über eine kurze Bekanntschaft mit der schönen Sennin direkt ins Jenseits des Requiems entführte, war zwar aufwühlend, vor allem aber intensiv wie ein guter Roman. Und wieder gelang ihnen dieses Wunder, einen epischen Bogen zu spannen, den womöglich nicht einmal der Komponist selbst genauso vor Augen hatte.
Mit den beiden Zugaben Tragödie nach Heine und Tief im Herzen trag ich Pein verabschiedeten sich diese Adepten der Liedkunst. Nicht ohne dass Christian Gerhaher seinem Freund noch ein Sträußlein Rosen gab, das vorher auf die Bühne geworfen worden war. Er tat dies mit einem spitzbübischen Lächeln, wie zwei Jugendfreunde aus Straubing eben, die unendliches Glück in ihrem gemeinsam Musizieren gefunden haben.