„Komponieren Sie doch auch mehr für Gesang.“ So beschrieb Robert Schumann 1839 seine Pläne im Brief an den befreundeten Komponisten Hirschbach. Und seiner Verlobten Clara Wieck bekannte er: „Das Klavier wird mir zu enge.“ In der Tat hatte er bis dahin fast ausschließlich für das Klavier komponiert. „Ach Clara, was das für eine Seligkeit ist, für Gesang zu schreiben, die hatte ich lange entbehrt.“ Dieser Schaffensrausch dauerte an im „Liederjahr“ 1840, mit dem ersten Liederkreis, Op.24 (nach Gedichten von Heinrich Heine) und dem Zyklus Myrten, Op.25 (nach verschiedenen Dichtern).

Julia Kleiter und Christian Gerhaher bei ihrem Festspiel-Liederabend 2022 © Wilfried Hösl (2022)
Julia Kleiter und Christian Gerhaher bei ihrem Festspiel-Liederabend 2022
© Wilfried Hösl (2022)

Im September 1840 konnten Clara und Robert endlich heiraten; als Hochzeitsgeschenk überreichte er ihr das prachtvoll eingebundene Heft der Myrten, das durch inhaltliche und stilistische Vielfalt besticht. Beim gut besuchten Liederabend im Prinzregententheater, innerhalb der Opernfestspiele der Bayerischen Staatsoper, hatte Christian Gerhaher diesen Zyklus an den Beginn gesetzt. Ein wunderbarer Kunstgriff, die 26 Lieder dieser Sammlung je nach Sichtweise im Wechsel mit der Sopranistin Julia Kleiter vorzutragen, die Palette feinster Nuancierungen damit zu erweitern. Gerold Huber, seit einer Dekade bereits Gerhahers großartiger Gefährte durch Schumanns Liedschaffen und ebenfalls gebürtig im niederbayerischen Straubing, schuf das pianistisch klangfarbenreiche Bühnenbild zu den zumeist nur wenige Minuten langen Kleinodien aus Dichtung und Melodie. Von gemeinsamen früheren Liedprojekten kennen sich auch Kleiter und Gerhaher.

So war die Wahl, Kleiter mit Friedrich Rückerts Widmung beginnen zu lassen, bereits selbst eine Interpretation. „Du meine Seele“ steht für die lange, ungetrübte Verbundenheit, mit der Clara den Geliebten gegenüber ihrem skeptischem Vater verteidigt hatte. Kleiter drückte da empfindsam die stille Beharrlichkeit aus, die innere Gewissheit einer richtigen Entscheidung, gerade in wachsender Zuversicht in der Wiederholung des ersten Teils. Sie gab dabei der Versuchung nicht nach, Szenen durch Vibrato zu dramatisieren, blieb die sanfte, oft geheimnisvolle Erzählerin. In ein beglückendes Wechselspiel von Stimme und Klavier glitten Kleiter und Huber im Nussbaum, der so viele Erinnerungen an Küsse, Rauschen und Flüstern birgt, die in den Zwischenspielen des Klaviers ihr Echo fanden. Ebenso innig auch Goethes Lied der Suleika, das in der letzten Strophe im sehr bedachten Crescendo die Klarheit einer Liebe im Gewand der Poesie erreicht sah. Amüsant Kleiters Beschreibung des geheimnisvollen Rätsels, ein Ding zwischen Himmel und Hölle in so vielerlei Höhen zu finden, das am Ende im H-Dur des Pianisten aufgelöst wurde.

Christian Gerhahers Rolle war hier mehr in den deklamatorischen Texten zu entdecken: forsch in Goethes Freisinn etwa, herausfahrende Schenkenlieder über schmackhaften und hellen Wein, dessen Kraft Huber mit muskulösen Synkopen markierte. Faszinierend ebenso hoffendes Herz oder „der Töne und Tränen wilder Fluss“ in den Hebräischen Gesängen, wo Gerhaher akribisch die Bedeutung von Satzteilen formte, zwischen ruhiger, fast beiläufiger Erzählung und erregtem Aufbäumen mannigfache Facetten von Stimmungen aufspürte. Und danach im „Leise lass“ der Venezianischen Lieder das Leben in den Lagunen liebte. Anrührende Rückert-Worte nochmals am Ende der Sammlung: Gerhaher fantastisch textdeutlich und sensibel, wenn Schumann vertont: „so wird der Himmel meiner Nächte licht“.

Neun Jahre später schrieb Schumann die Gesänge aus Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, Op.98a. Bei Julia Kleiter wiederum makellose Klarheit und Fülle des Lichts im „Land wo die Zitronen blühn“, ein behutsam nachdenkliches „Nur wer die Sehnsucht kennt“. Christian Gerhaher nun dramatischer, mit funkelnd nervöser Energie, wenn er bodenloses Entsetzen im tiefen vokalen Keller ausmalte: „denn alle Schuld rächt sich auf Erden“.

Auch in den Romanzen und Balladen aus Op.64 erschloss Gerhaher mit tenoral timbriertem Bariton verhalten Nuancen in Melodik und Text. Ein Hauch nur der Reif, der auf die zarten Blaublümelein fiel; fahles Grauen, dass die fliehenden Liebenden schließlich ohne Glück bleiben. Fabelhaft wieder Gerold Huber, der antrieb und sich eine Zeile später vollkommen zurücknehmen konnte, der manche Coda zu unerwarteten Ereignismomenten machte. Hier kamen Kleiter und Gerhaher nun zum einzigen echten Duett zusammen: unter Heines Linde, wo die Vögel so süß und so traurig singen, die schwatzenden Buhlen verstummen.

Ein wunderbarer Abend mit Anklängen und tonalem Reiz wie in einer südländischen Molekularküche: angerichtet mit den essentiellen Zutaten der Gesangskunst, serviert mit Konzentration auf das Wesentliche. „Kosten Sie doch mehr vom Gesang!“, so möchte man mit Schumann sagen. Ein Erlebnis!

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