Max Emanuel Cenčić machte drei Schritte auf die Bühne, eine wegwerfende Handbewegung, und trat wieder ab. Was, sollte das wohl heißen, konnte man noch tun, nachdem Julia Lezhneva das Publikum mit ihrer ersten Arie geradezu in Ekstase versetzt hatte?
Doch eine echte Diva stellt sich der Herausforderung: Lokalmatador Cenčić kam zurück und wurde für seine Darbietung ebenfalls heftig gefeiert, wenngleich das junge russische Koloraturwunder das Match um die Publikumsgunst an diesem Abend für sich entschied: Wann hat man je eine Sängerin gesehen, die vor einer erschreckend schwierigen Arie wie ein Kind strahlt, dem gerade ein Eisbecher vorgesetzt wird? Es gelang ihr alles, und ihre Begeisterung übertrug sich auf die Zuhörer.
Cenčić wusste wohl genau um ihre Fähigkeiten, als er sie für diese Konzertreihe (im Herbst folgen Moskau und Amsterdam); schließlich ist es sein Projekt und das aufgeführte Werk quasi seine „Entdeckung“. Es geht um den Siroe jenes Johann Adolf Hasse, der sich seine ersten Sporen als Opernkomponist in Neapel verdiente und später von Dresden aus dreißig Jahre lang die europäischen Opernbühnen zu dominierte – bis der Tod von August dem Starken (dessen Hofkapellmeister er war), ein Bankenbankrott sowie Glucks Opernreform, die Hasses Werk plötzlich altmodisch erscheinen ließ, Hasses schönes Leben und somit auch die glanzvolle Opern-Ära am Dresdner Hof beendeten. Hasse starb 1783 mittel- und ruhmlos in Venedig und geriet lange – nach dem heutigen Abend zu urteilen viel zu lange – in Vergessenheit.
Mit einigen seiner Arien überraschten schon Barock-Spezialisten wie Joyce DiDonato und natürlich Cencic, doch Initiativen zur Wiederbelebung ganzer Opern sind bis jetzt rar, zumal hier viel Quellenforschung nötig ist. Bei Siroe hat sich die Mühe jedenfalls gelohnt, denn langweilig wurde es in fast dreieinhalb Stunden nie, wozu auch das kompetente Libretto des zu seiner Zeit unübertroffenen Pietro Metastasio beiträgt. Dieses wurde von Hasse und seinen Zeitgenossen gleich mehrmals vertont und die Sänger des Abends gaben dessen Witz und Drama perfekt wieder. Musikalisch entschied sich Cenčić für Hasses Letztfassung aus 1763, welche noch um je eine Arie von Händel und Carl Heinrich Graun erweitert wurde (bei letzterem darf man sich hoffentlich auf weitere „Ausgrabungen“ durch engagierte Freunde Alter Musik freuen).
Hasses Musik ist dem Schönheitsideal seiner Zeit verpflichtet, wozu selbstverständlich das streng Formale in der Abfolge von Rezitativen und Arien gehört, und wirkt im Vergleich mit Händel speziell in der Orchestrierung schlanker und aufgeräumter, wozu die Koloraturarien mit ihrer Schwierigkeit und virtuosem Effekt in starkem Kontrast stehen. Allerdings haben sie nicht Händels „Hitpotential“, von dem sich doch vieles nachsingen oder -pfeifen lässt.
Doch nun zur Handlung. Perserkönig Cosroe hat einen verhängnisvollen Einfall: Seine beiden Söhne Medarse und Siroe sollen einander die Treue zu schwören – unabhängig davon, welchen von ihnen er zu seinem Nachfolger bestimmt. Das erbost natürlich den Erstgeborenen Siroe, und nicht nur deshalb scheint er zunächst gegenüber dem scheinbar schmeichlerisch-braven Bruder, der aber in Wirklichkeit ein Intrigant ist, den Kürzeren zu ziehen. Die Damen (Cosroes Geliebte Laodice, die heimlich für Siroe schwärmt, und Emira, als Mann verkleidete Tochter von Cosroes Erzfeind, die zwischen Rache für ihren getöteten Vater und Liebe zu Siroe zerrissen ist), intrigieren fleißig mit, bis es durch die Hilfe von Kodices Bruder Prasse zum lieto fine kommt, also Happy End samt Schlusschor.
Das Publikum jubelte über das Gebotene, und bis auf die Leistung von Mezzosopranistin Mary-Ellen Nesi, die erst in ihrer letzten Arie das abstellte, was die Wiener „knödeln“ nennen, gab es allen Grund dazu. Ausschließlich Erfreuliches hörte man von Roxana Constantinescu, neben dem eingangs erwähnten Max Emanuel Cenčić und Mary-Ellen Nesi die dritte Mezzostimme des Abends, welche noch aus ihrer Zeit als Ensemblemitglied der Wiener Staatsoper in Erinnerung ist. Sie trug passend zu ihrer Rolle als verkleidete Emira eine Art langen Hosenrock, während die Sopranistin Lauren Snouffer ihre Hosenrolle Arasse im figurbetonten Abendkleid bestritt und ihre Koloraturen dabei mit ihrem Haarschmuck um die Wette glitzerten. In der Tenorpartie des Cosroe, die den einzige Kontrapunkt zu den teils schwindelerregenden Höhen der übrigen Stimmen darstellte, glänzte Juan Sancho darstellerisch (soweit man in einer konzertanten Opernaufführung eben gehen kann) und mit einem Hauch Rossini-Timbre; er bewältigte seine Partie wenn schon nicht überragend, dann doch sehr gefällig.
Das griechische Originalklangensemble Armonia Aténéa lief unter dem Dirigat seines Chefdirigenten George Petrou zu Hochform auf und spielte mit höchster Präzision, vollem Einsatz und vollem Risiko: Bei Laodices letzter Arie (aus dem Britannico des bereits erwähnten Graun) waren auch langjährige Barockliebhaber vom Tempo überwältigt, welches das Orchester und die blutjunge Julia Lezhneva scheinbar mühelos aus dem Ärmel schüttelten. Letztere ist ein Naturtalent mit schöner, farbiger Stimme in der tiefen und mittleren Lage sowie klarer, vibratoloser Höhe; sie besitzt die Fähigkeit, über mehrere Takte schwierigster, stets sauberer Koloratur ein Crescendo aufzubauen und ebenso wieder im Decrescendo verklingen zu lassen. Lässt sie sich nicht verheizen, ist eine große Karriere unaufhaltsam.