Die Römer sprachen vom Genius loci, wir nennen es heute den Spirit des Ortes. Im Rahmen der Ouverture spirituelle der Salzburger Festspiele gab es ein Konzert, wo der Genius loci tatsächlich den Raum erfüllte. Das Freiburger BarockConsort und das belgische Vokalensemble Vox Luminis spielten in der barocken Kollegienkirche Musik, die wie für diesen Raum komponiert wirkte.
Als die Kirche im Bau war, war Heinrich Ignaz Biber in Salzburg fürstbischöflicher Hofkapellmeister und komponierte hier seine geistlichen Werke, darunter jenes Requiem aus dem Jahre 1692, das hier erklang. Er starb wenige Jahre bevor der grandiose Bau des Architekten Fischer von Erlach eingeweiht wurde. Dessen harmonische Klarheit ohne jeden überflüssigen Zierrat, die weiße Reinheit der Wände und ein dezenter Nachklang von Wort und Ton waren der ideale Ort für dieses Konzert, dessen Programm neben dem Requiem seinen geistlichen Schwerpunkt auf die Verehrung Mariens gelegt hatte.
Mit der Laetaniae della Beata Vergine von Claudio Monteverdi begann Vox Luminis das Konzert ohne Instrumentalbegleitung nur mit Unterstützung der Orgel als Generalbassinstrument. Die Komposition überraschte mit ihrer Vielfalt der Harmonien und musikalischen Figuren, obwohl der Litanei-Text nichts außer ständiger Wiederholungen der Attribute der Gottesmutter enthält. Filigran und klanglich hoch differenziert fächerte Vox Luminis das polyphone Geflecht dieser liturgischen Komposition auf. Lionel Meunier; Gründer und Leiter des Ensembles, wirkte inmitten der 15 Sängerinnen und Sänger als zuverlässiger Leiter, der sich ob deren hoher Professionalität niemals in den Vordergrund spielte. Das haben übrigens beide Spezialensembles für Alte Musik gemeinsam: ein derart modernes Verständnis des gemeinsamen Musizierens auf Augenhöhe.
Monteverdi war einer der ersten Komponisten, die der Frage nachgingen, ob die Musik über den Text herrschen oder umgekehrt der Text maßgebend für die Musik sein solle. Ersteres, das Vorbild der niederländischen Madrigalkunst, nannte er „prima prattica”. Ein Muster solch traditionsgebundener Vokalkunst ist seine Marienlitanei. Agostino Steffani dagegen, zehn Jahre nach Monteverdis Tod geboren, war im Hochbarock schon längst der Darstellung von Affekten in der Musik verpflichtet, nach Monteverdis Lesart der „seconda prattica”. Sein Stabat Mater bildete den großen Kontrast zu Monteverdis Komposition. Ebenfalls sechsstimmig, aber mit reicher auch sechsstimmiger Orchesterbegleitung erklang hier Musik, welche die Leiden Mariens unter dem Kreuz ihres gemarterten Sohnes emotional schildert und zugleich die subjektive Frömmigkeit des Betrachters zum Ausdruck bringt. Steffanis Stärke ist höchste Vielfalt in der Gestaltung jedes einzelnen der 20 Abschnitte, die wie musikalische Mosaikbilder der Kreuzigungsszene wirken. Am eindrucksvollsten wohl am Schluss die Bitte der frommen Seele, durch das Leiden Christi erlöst in die ewige Seligkeit eingehen zu dürfen: langsam, feierlich, durch Pausen unterbrochen und ohne Instrumentalbegleitung schweben die Vokalstimmen gleichsam dem Himmel zu. Feinfühlig und ungemein intensiv gestalteten die Künstler diesen wahrlich spirituellen Moment.
Die zweite Hälfte war nun Biber gewidmet, der vor seiner Tätigkeit in Salzburg schon als begnadeter Geiger im böhmischen Raum Karriere gemacht hatte. In seinen Rosenkranzsonaten verbindet er musikalische Virtuosität mit religiös-spiritueller Kontemplation. Petra Müllejans, die immer wieder beeindruckende Sologeigerin des Freiburger Barockorchesters, spielte aus dieser Sammlung die Nr. 10 „Kreuzigung”. Intensive Klangrede und pointierte Tongebung bestimmten ihr Spiel. Deutlich stellte sie die von Biber im harten Staccato klangmalerisch gestalteten Einschläge der Nägel ins Kreuz dar.
Bibers Requiem steht eigentlich in der Dichte der Faktur und in der Expressivität der Violinsonate nach. Aber Vox Luminis und dem Freiburger BarockConsort gelang am Schluss dieser Matinee doch eine berührende Interpretation. Das Werk, fast durchgängig in düsterem f-Moll, endet bei dem Gedanken „et lux perpetua luceat eis” in hellem C-Dur. Da war er wieder, der Genius loci dieses schönen, strahlend weißen Kirchenraums.