Der Dirigent Leonard Slatkin bezeichnete John Williams als die wichtigste musikalische Person des 20. Jahrhunderts, wichtiger selbst als Strawinsky oder Schönberg. „Können Sie mir sieben Menschen auf diesem Planeten nennen, die noch nie etwas von John Williams gehört haben?“ Zweifellos kann John Williams‘ Einfluss auf die Entwicklung der Musik, freilich besonders der Filmmusik, gar nicht hoch genug bewertet werden. Allerdings sollte man nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Und so müssen die beiden Werke, welche das Boston Symphony Orchestra unter Andris Nelsons zum Abschluss der diesjährigen Salzburger Festspiele interpretierten, auch separat gewürdigt werden. Bemerkenswert ist jedoch, dass Igor Strawinsky, dessen Petruschka-Suite im zweiten Teil des Abends erklang, einmal geäußert hat: „Ich bin der Ansicht, dass die Musik ihrem Wesen nach unfähig ist, irgend etwas ,auszudrücken’, was es auch sein möge.“ Diese Absage an die Programmmusik hat nicht zuletzt Williams zwischenzeitlich mit seinen Movie-Scores gründlich widerlegt.

Loading image...
Andris Nelsons dirigiert das Boston Symphony Orchestra
© SF | Marco Borrelli

An jenem Abend in Salzburg hingegen war es eben gerade nicht Williams, sondern Strawinsky, welcher nolens volens das bessere Kopfkino erzeugte. Das Violinkonzert von Williams, welches 2020 in Wien durch die Widmungsträgerin Anne-Sophie Mutter uraufgeführt und auch in Salzburg wieder von ihr gespielt wurde, gehört nämlich nicht zu den eingängigsten erzählerischen Werken der Hollywood-Legende. Williams wollte mit dem Stück bestimmte Eigenheiten würdigen, die er an Anne-Sophie Mutters Spiel beobachtet hatte. So ist das Konzert geprägt von Passagen, die frei und fast improvisiert klingen, unterbrochen von mitreißenden virtuosen Läufen und technischen Hochseilakten. Bei Mutter klingt das alles so selbstverständlich und natürlich, als wäre sie immer noch das blutjunge Mädchen, das unbekümmert dem gewaltigen Herbert von Karajan und seinen Berliner Philharmonikern die Chaconne von Bach vorspielt.

Anne-Sophie Mutter ist wie Williams eine musikalische Legende, die weit über ihr Fach hinauswirkt. Dass sie sich des streckenweise sperrigen Werks ihres Freundes John Williams annimmt wie so vielen anderen zeitgenössischen Kompositionen, zeigt ihre Offenheit und Neugier ebenso wie ihre Fähigkeit, derartige Rohdiamanten allein durch ihre Interpretation zum Funkeln zu bringen. Doch nicht alles war roh und ungeschliffen. Gerade die Passagen, in denen Williams Klangfarben erzeugt, Gefühle heraufbeschwört und dann eben doch ein wenig Kopfkino kreiert – wie beispielsweise der Beginn des zweiten Satzes Rounds – waren die Highlights des ersten Teils dieses Konzertabends. Neben Mutter ist es den Musikern des Boston Symphony Orchestra zu verdanken, dass diese Momente perfekt glänzten und jede Klangfarbe auf der Instrumentierungspalette in optimalem Licht erschien. Nelson hatte sein Orchester souverän eingestellt und bis zum letzten Pult funktionierte der Apparat makellos. Als Zugabe gab es Helena's Theme from Indiana Jones and the Dial of Destiny, ebenfalls von John Williams.

Loading image...
Anne-Sophie Mutter
© SF | Marco Borrelli

Nach der Pause ging der hochglanzpolierte Orchesterklang weiter. Die Orchestersuite Petruschka von Igor Strawinsky wurde in der revidierten Fassung von 1974 wiedergegeben. Gegenüber der ursprünglichen Fassung hatte der Komponist hier insbesondere die Bläsergruppen reduziert und verzichtete auf den Abdruck vieler Details der Balletthandlung. Dennoch ist das Orchester massiv besetz. Allein neun Kontrabässe bildeten das Fundament für den gewaltigen Klangrausch, den das Publikum sichtlich genoss. Vom ersten bis zum letzten Takt war kaum ein Fehlerchen zu hören. Selbst die diffizilsten ametrischen Pizzicato-Plongs sämtlicher Streicher waren fast immer perfekt wie in einer Studioaufnahme. Jedes Solo, jede Unisono-Passage der Schlagwerker kam auf den Punkt. Ruhig und klar, präzise und pointiert interpretierten die erste Flötistin und der Trompeten-Primarius ihre langen und anspruchsvollen Soli.

Dass dabei nicht immer der Funke übersprang, lag wohl daran, dass Andris Nelson kein charismatisch extrovertierter Pultstar ist, sondern vielmehr einer der begabtesten Partiturarbeiter seiner Generation. Zu Beginn des vierten Bildes (Jahrmarkt in der Fastnachtswoche und Petruschkas Tod) gelangen die Klangflächenkomposition dann auch wohlbalanciert, und die langgezogene Beschreibung des Todes von Petruschka gefolgt von der Erscheinung ihres Geistes berührte das Publikum dieses Abschlusskonzerts der diesjährigen Salzburger Festspiele derart, dass noch lange Stille war im Großen Festspielhaus, bevor tosender Applaus die Glanzleistung der Musiker belohnte.

****1