Seit Sir Simon Rattle bekannt gegeben hat, dass er seinen Posten als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker 2018 aufgeben wird, wurde viel darüber spekuliert, wo er den Taktstock wohl als nächstes heben würde. Das London Symphony Orchestra ist derzeit der wahrscheinlichste Kandidat; das Orchester hat alle Anfragen bisher mit ‘Kein Kommentar’ beantwortet, immerhin ein kleiner Hoffnungsschimmer.
Während des Konzertes habe ich aufmerksam nach Anhaltspunkten gesucht, die darauf hinweisen, dass eine Entscheidung schon getroffen wurde, aber vergebens. Es war Rattles erster Auftritt mit dem Orchester seit dem Gastauftritt bei der Eröffnung der Olympischen Spiele 2012. In Interviews hat er das Orchester oft hoch gelobt, und als er den Saal betrat, wurde das harmonische Verhältnis zwischen ihm und dem Orchester deutlich.
Sie eröffneten das Konzert mit Beethovens Violinkonzert, das Joseph Joaching als das “größte, kompromissloseste” deutsche Violinkonzert beschrieb. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich fälschlicherweise angenommen, dass ich den ersten Satz etwas trüb und wenig ansprechend fand. Mit einer Dauer von oft über 25 Minuten ist er doppelt so lang wie die letzten beiden Sätze zusammen und beginnt mysteriös mit fünf Paukenschlägen. Während die Musik in den Aufführungen, die ich bisher gesehen habe, immer eher ziellos umher zu irren schien, gestalteten Rattle und Solistin Veronika Eberle Ebbe und Flut des Satzes ganz wunderbar. Das Larghetto war warm und ausgedehnt, und das LSO zauberte verblüffend zarte pianissimi. Eberles Stradivari wurde ihrem Ruf vollends gerecht, und die Musikalität der jungen Violinistin ergänzte den reichen, goldenen Ton ihres Instruments. Das Finale strotzte geradezu von so kraftvoller Vitalität, dass mir schlagartig bewusst wurde, wie ähnlich dieser Satz dem dritten Satz “Lustiges Zusammensein der Landleite” aus der Pastoralen ist.
Der zweite Teil des Konzertes begann mit einer unerwarteten Verleihung der Ehrenmitgliedschaft der Royal Philharmonic Society an Martin Campbell-White, Rattles Agenten, mit zwei kurzen, aber sehr herzlichen Ansprachen beider Herren. Campbell-White betreut und begleitet Rattles Karriere seit 1970, und Rattle freute sich, dass er “endlich einmal die Gelegenheit bekam, Danke zu sagen”.
Der Abend zeigte, dass Rattle ein Händchen dafür hat, ein fruchtbares Programm zu konzipieren, und so hörte man als zweites Werk Henzes Being Beauteous, das man am besten als sekuläre Kantate für Koloratursopran, vier Celli und eine Harfe beschreiben kann. Der Text stammt aus Arthur Rimbauds Les Illumniations, doch da sich die Melodielinie in immens hoher Stimmlage befindet und zusätzlich mit Glissandi gespickt ist, werden die Worte schier unkenntlich. Rattle allerdings hatte empfohlen, den Text vor Beginn des Stückes zu lesen, und da es sich um Poesie des Symbolismus handelt, ist es vielleicht gar nicht so wichtig, jedes einzelne Wort zu verstehen, als vielmehr die Ästhetik, die Rimbaud und Henze damit kreieren wollten. Die Musik für die vier Celli schuf einen erstaunlich abwechslungsreichen Klang, sodass man bisweilen meinte, es handelte sich um ein regulär besetztes Streichquartett, das in den tiefsten Lagen spielte. Mit ihrer wunderbar reinen Stimme und nur minimaler Intonationshilfe der Begleiter bot Sopranistin Anna Prohaska dieses unheimlich anspruchsvolle Werk mit einer Leichtigkeit dar, die einen vergessen lässt, dass die Töne vom mittleren C nahezu zweieinhalb Oktaven in die Höhe springen.
Nach einer Programmänderung in letzter Minute bildete nun nicht Brahms' Symphonie Nr. 4, sondern die großteils 1845 während einer Depressionsphase entstandene Symphonie Nr. 2 in C-Dur von Robert Schumann den Abschluss des Konzertes. Über das "Warum" kann man nur spekulieren, aber dieses Werk vereint in sich die klassisch-Beethovensche symphonische Reise hin zum Sieg über die Widrigkeiten des Lebens und bildete dadurch eine gelungene Ergänzug zum Eröffnungswerk. Das Besondere an dieser Vorstellung war die Sorgfalt, die Rattle bei der Gestaltung jeder Phrase und musikalischen Idee walten ließ. Ein bemerkenswerter Höhepunkt fand sich im zweiten Satz, in dem eine kurze, lebhafte Phrase durch die Streicher geht. Bei jedem Durchgang galt Rattles Aufmerksamkeit ganz den zweiten Violinen, und er ermutigte sie, diese Phrase richtiggehend zu attackieren, was sie mit Freude taten. Augenblicke wie diese sorgten dafür, dass, trotz des vorherrschenden C-Dur im ganzen Stück, ein Gefühl für Schumanns Wahnsinn und Leiden entstand.
Es war ein aufregendes Konzert, das sehr für eine Anstellung Rattles bei diesem Orchester spricht - elektrisierendes Spiel, versierte Solisten, und ein Programm, bei dem man in unbekannten wie bekannten Werken viel Neues entdecken konnte. Man kann nur hoffen, dass die Gerüchte sich bewahrheiten.
Übertragung aus dem Englischen von Hedy Mühleck