Wer war Agrippina? Eine Intrigantin und Mörderin? Die historische Figur lebte im ersten Jahrhundert n. Chr. und gehörte der julisch-claudischen Kaiserdynastie an. Sie war die Frau des Kaisers Claudius und die Mutter Neros. Ihr Leben ist vom Geschichtsschreiber Tacitus, der den Sittenzerfall in der früheren Kaiserzeit im Visier hatte, als negative Figur dargestellt worden. Im frühen 18. Jahrhundert verpackte Kardinal Vincenzo Grimani die Geschichte der streitbaren Kaisersgattin in ein Libretto und regte den jungen Georg Friedrich Händel zur Komposition einer Oper an. Agrippina wurde im Dezember 1709 in Venedig uraufgeführt. Grimani, der unter anderem habsburgischer Botschafter beim Heiligen Stuhl war, zielte mit seinem Libretto wohl auf die Intrigen im römischen Kirchenstaat seiner Zeit.
Eine Aktualisierung geschieht auch in der gegenwärtigen Inszenierung von Agrippina am Opernhaus Zürich. Während das Orchester La Scintilla unter der Leitung von Harry Bicket den Originalklang der Händel-Zeit aufleben lässt, verpflanzt die Regisseurin Jetske Mijnssen die Story ins Hier und Heute. Sie stellt das Machtgerangel eines fiktiven Familienclans dar, denkt dabei aber durchaus an reale Parallelen wie „die Trumps, die Murdochs oder die Le Pens“, wie sie in einem Interview formuliert. Claudio, der kranke Boss der Familie, ist mehr an den Frauen als an den Regierungsgeschäften interessiert. Seine Gattin Agrippina setzt alles daran, Nerone, ihren Sohn aus erster Ehe, als Claudios Nachfolger durchzuboxen. Wenn da nicht der loyale Ottone wäre, dem Claudio die Nachfolge bereits versprochen hat. Dramatische Spannung entsteht zudem durch die junge Poppea, die als Außenstehende das Familiengefüge des Clans ganz ordentlich durcheinanderwirbelt.
Mit Anna Bonitatibus steht für die Titelrolle der Agrippina eine Grande Dame des italienischen Fachs auf der Bühne. Ihr Mezzosopran klingt in allen Lagen ansprechend und passt sich den geforderten Gefühlslagen mühelos an. Die Regie zeigt die Figur nicht nur als skrupellose Intrigantin, sondern auch als Verzweifelte und gar Bedrohte. Als sie merkt, dass ihre Intrige auffliegen könnte, führt sie ein großes Messer gefährlich nahe an die Brust. Und als Nerone befürchtet, ihr Plan könnte scheitern, erdrosselt er sie beinahe. Unbefriedigend ist indes der Handlungsstrang mit den beiden Höflingen Pallante und Narciso dargestellt. Der Bass José Coca Loza und der Countertenor Alois Mühlbacher geben die Rollen als brave Buchhaltertypen. Wieso sie den eher bescheidenen Verführungskünsten Agrippinas erliegen, ist nicht nachvollziehbar. Und überhaupt könnte das komödiantische Element in diesem Beziehungsdreieck viel stärker herausgearbeitet werden.
Gegenspielerin Agrippinas und heimliche Hauptfigur der Zürcher Inszenierung ist Poppea. Die 31 Jahre junge Lea Desandre wechselt ihre unterschiedlichen Register von Kindfrau, Krankenschwester, Verliebter, Verführerin und eiskalt Berechnender virtuos. Ausgestattet mit einer atemberaubender Koloraturstimme und einer umwerfenden Bühnenpräsenz, bringt sie gleich drei Männer um den Verstand. Der Ottone von Jakub Józef Orliński, der hier nicht als Feldherr, sondern als empfindsamer, ehrlicher Jüngling auftritt, würde von seiner Persönlichkeit und seiner sensiblen Counter-Stimme her perfekt als Poppeas Partner passen. Die beiden singen denn auch das einzige Duett in dieser Oper.
Auch Nerone ist in Poppea verliebt; Christophe Dumaux gibt ihn als Machtmenschen, dessen Countertenor gelegentlich etwas forciert wirkt. Der dritte Liebhaber ist der mit Agrippina unglücklich verheiratete Claudio. Nahuel Di Pierro verleiht ihm mit seinem imperialen Bass durchaus die Statur eines Familienbosses. Die im Hinblick auf diese amourösen Verwicklungen köstlichste Szene ereignet sich im dritten Akt, wenn Poppea der Reihe nach mit einem der drei Lovers flirtet, während die beiden andern das Geschehen aus einem Versteck heraus argwöhnisch beobachten.
Musikalisch ist Agrippina, die erste der auch heute noch gespielten Opern Händels, ein großer Wurf des jungen Komponisten. Er wird auch dadurch nicht geschmälert, dass einige Nummern dieses Dramma per musica aus früheren Werken Händels stammen oder gar von fremden Kompositionen übernommen und bearbeitet wurden.

Harry Bicket, seines Zeichens Künstlerischer Leiter des von Trevor Pinnock gegründeten Barockensembles The English Concert, erweist sich als begnadeter Anwalt dieser Musik, die doch nur der kleinste Teil des Publikums kennt. Die Rezitative begleitet er selber am Cembalo, während er die Arien als Dirigent anführt. La Scintilla, die Barockformation des Opernhausorchesters, tut ihrem Namen alle Ehre an und lässt bei der Premiere die Funken sprühen. Dass dabei auch die vielen Sechzehntelpassagen, colla parte mit den Koloraturen der Sänger ausgeführt, unerhört präzise daherkommen, ist sensationell.
Wenn am Schluss der dreistündigen Oper das Vokalensemble den Chor „Lieto il Tebro increspi l’onda“ anstimmt, hat gemäß Libretto Agrippina ihr Ziel erreicht: Nerone wird zum neuen Kaiser alias Familienboss ausgerufen. Jetske Mijnssen hat sich jedoch einen anderen Schluss ausgedacht. Poppea hat den Gläsern, aus denen die Familienmitglieder zur Besiegelung des glücklichen Endes trinken, Gift beigemischt. Nach wenigen Minuten sterben alle, nur Poppea nicht – und Agrippina, die den Mordplan ihrer Rivalin durchschaut hat. Die Männer sind tot, die Frauen überleben – so endet die Geschichte im Zeitalter der Frauenemanzipation.