Die beiden überlieferten Passions-Vertonungen Johann Sebastian Bachs zeigen deutliche Unterschiede: Die Matthäus-Passion dauert länger als die Johannes-Passion, weist einen weniger dramatischen Charakter auf und ist in durchgehender Doppelchörigkeit gehalten. Die längere Dauer der Matthäus-Passion entsteht dadurch, dass Bach hier auch den Bericht über das Letzte Abendmahl vertont hat und dass sein Textdichter Picander zudem viel mehr Ariosi und Arien zum Evangeliumstext hinzugefügt hat. Der lyrischere Charakter ergibt sich gerade durch diesen letztgenannten Umstand, weil das dramatische Geschehen um Verurteilung und Kreuzigung Jesu immer wieder durch Haltepunkte der mitfühlenden Betrachtung unterbrochen wird. Die Doppelchörigkeit schliesslich war bei der Leipziger Uraufführung noch nicht vorhanden; sie entstand erst durch Bachs Umarbeitung der Passion für eine erneute Aufführung im Jahr 1736. Für die Besetzung schrieb er nun zwei gleichberechtigte Ensembles vor, nämlich zwei Orchester, zwei Chöre, zwei Gruppen von Gesangssolisten und zwei Continuo-Apparate.

Zürcher Sing-Akademie © Priska Ketterer
Zürcher Sing-Akademie
© Priska Ketterer

In der Realisierung der Matthäus-Passion vom Karsamstag durch das Freiburger Barockorchester und die Zürcher Sing-Akademie in der Tonhalle Zürich kam diese Doppelchörigkeit sinnfällig zum Vorschein. Gastdirigent Francesco Corti, ein gefragter Cembalist und Dirigent der Alte-Musik-Szene, leitete die Aufführung in der Mitte des Podiums vom Cembalo aus. Ihm zur Linken wirkten das Orchester I und der zwölfköpfige Chor I mit, zur Rechten das Orchester II und der ebenfalls zwölfköpfige Chor II. Für beide Ensembles stand konsequenterweise eine eigene Continuo-Gruppe mit Truhenorgel, Cello und Kontrabass zur Verfügung.

Sehr plastisch trat die Doppelchörigkeit in denjenigen Chornummern in Erscheinung, die textlich eine dialogische Struktur aufweisen, etwa gerade im Eingangschor „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen”. Ein eindrückliches Beispiel ist auch das mit Choreinwürfen angereicherte Duett „So ist mein Jesus nun gefangen” bei der Festnahme Jesu im Garten Gethsemane. Während die Sopranistin Kateryna Kasper und der Altus Philippe Jaroussky vom Orchester I begleitet wurden, griffen Chor und Orchester II mit den Worten „Lasst ihn, haltet, bindet nicht” ein, als ob sie die schändliche Tat verhindern könnten.

Ein (theoretisch vorgesehenes) doppeltes Solistenquartett für die Arien leisteten sich natürlich auch die Ausführenden am Karsamstag nicht. Sondern die Solisten gesellten sich je nach Situation zum ersten oder zum zweiten Orchester. Die Stimme von Kateryna Kasper ist eigentlich zu voluminös, doch verstand sie es immer wieder, wie im erwähnten Duett, sie zurückzunehmen und anzupassen. Philippe Jaroussky, ein berühmter Altus, konnte die Erwartungen nicht erfüllen; in seiner Auftrittsarie intonierte er gelegentlich etwas zu tief, im Charakter wirkte er manchmal affektiert. Der Tenor Zachary Wilder punktete in der Arie „Geduld!”, einer Reaktion auf die Anklage der zwei falschen Zeugen, mit anteilnehmendem Ausdruck und wurde dabei von der Gambistin Mime Brinkmann leidenschaftlich begleitet. Diese Empathie liess der Bass Andreas Wolf hingegen weitgehend vermissen. Seine Arien klangen als etwas neutraler Schöngesang, in der Pilatus-Rolle zeigte er sich engagierter.

Unter den Solisten der Haupthandlung bildet die Wahl des Evangelisten zweifellos die grösste Herausforderung. Maximilian Schmitt ging die Rolle mit emotionaler Ergriffenheit und dramatischem Impetus an; in seiner opernhaften Gestaltung schoss er aber bisweilen über das Ziel hinaus. Als Jesus gefiel Yannick Debus, der für die Rolle gerade das passende Alter hat, mit einer wohltuenden Mischung aus Würde und Menschlichkeit. Die kleineren Rollen der Passionsgeschichte wurden von einzelnen Sängerinnen und Sängern des Chores realisiert. Die Zürcher Sing-Akademie (Einstudierung: Florian Helgath) zeigte sich somit als ein Ensemble auf professionellem Niveau, dessen Qualität nicht zuletzt darin liegt, dass die einzelnen Mitwirkenden sowohl solistisch sich profilieren als auch chorisch zu einer schönen Einheit verschmelzen können.

Auch zwischen Chor und Orchester herrschte bestes Einvernehmen, arbeiten die beiden Klangkörper doch immer wieder bei gemeinsamen Projekten zusammen. Das Freiburger Barockorchester zeigte sich an diesem Abend von der besten Seite. Alte Instrumente, tiefe Stimmung, historisch informierte Aufführungspraxis – alles war da und hörte sich ganz natürlich und ungezwungen an. Die beiden Konzertmeister Gottfried von der Goltz und Péter Barczi führten ihre Teilorchester souverän an, so dass Francesco Corti sich ganz den grossformalen Aspekten der Interpretation widmen konnte: dramatische Umsetzung der Handlungsteile, lyrische Versenkung in den Arien und schlichte Gläubigkeit in den Chorälen. Das sichtlich ergriffene Publikum dankte es mit stehendem Beifall. 

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