Im letzten Abonnementkonzert der Berliner Philharmoniker in dieser Saison spielte das Orchester ohne Geigen. Simon Rattle wählte dazu zwei Serenaden des 19. Jahrhunderts aus, in denen, wie bei den „Harmoniemusiken“ des 18. Jahrhunderts, die Bläser die Streicher dominieren. Im Zentrum des Konzerts erklang die Deutsche Erstaufführung von Mark-Anthony Turnages Remembering – In Memoriam Evan Scofield. Es wurde im Auftrag der Stiftung Berliner Philharmoniker, des Boston- und des London Symphony Orchestras komponiert. Am 19. Januar 2017 fand in London unter Rattle die Uraufführung statt. In diesem Werk verzichtet der Komponist auf Geigen, um den Ton dunkel zu halten.

Ganz traditionell eröffnet Dvořák seine Serenade für Bläser mit einem Marsch, der an einen zeremoniellen Musiker-Aufzug erinnert, wie er zu Mozarts Zeit üblich war. Entlockte Rattle diesem prächtigen Satz in Moll nicht doch einen leicht ironischen Unterton? In den beiden mittleren Sätzen ließ er den Solisten freie Bahn, und man konnte sich kaum satt hören an dem hinreißenden Spiel der ausnahmslos famos spielenden Bläser. Diese Klangschönheit war der rechte Ton, um mit Musizierfreude den Stolz hervorzukehren, mit dem Dvořák in einem als Minuetto bezeichneten Satz alle höfisch-österreichische Zierlichkeit ganz selbstbewusst durch zwei böhmische Tänze ersetzte. Rattle und seinen Musikern gelang es, die Wildheit in dem das Trio vertretenden Furiant auch ohne Becken und Blech wie in den Slawischen Tänzen, quasi kammermusikalisch hörbar zu machen.

Den Finalsatz gestalten die Musiker als Rausschmeißer, ohne dabei die Raffinesse der Themengestaltung im Schwung zu überspielen. Die Musiker ließen den 1878 noch unbekannten Dvořák sich nicht brav vor der Geschichte verbeugen, sondern zeigten, dass er das Zeug dazu hatte, der Wiener Tradition mit seinem schier unermesslichem Einfallsreichtum eine eigene Musik entgegenzusetzen.

Danach wurde es auf dem Podium so voll, wie dies bei einem Symphonie-Konzert üblich ist. Seit Mark-Anthony Turnage vier Jahre lang als Composer in Association beim City of Birmingham Symphony Orchestra mit Rattle zusammenarbeitete, stehen die beiden in guter Verbindung. Rattle setzt sich stets für die britische Musik der Gegenwart ein und Turnage spürt nach eigenen Worten „größtes Vertrauen“ bei diesem Dirigenten – und das zu Recht.

Remembering ist auf den Tod des Schriftstellers und Musikers Evan Scofield komponiert, der 2013 im Alter von nur 25 Jahren an Krebs gestorben war. Ihm zu Gedenken komponierte Turnage ein viersätziges Werk, und vermied nur aus Respekt vor der Gattung, es eine Symphonie zu nennen. Doch die Charaktere einer solchen treten deutlich hervor. Im Eröffnungssatz hört man Allusionen an Strawinskys Sacre in der Brechung durch Bernsteins Symphonische Tänze aus West Side Story, also um Jazz-Idiome bereichert. Rattle verstand es, die Erinnerungsfetzen aus dem Leben des Verstorbenen, in den unregelmäßigen rhythmischen Akzente aufblitzen zu lassen. Im zweiten Satz, einem nervösen Intermezzo, ließ sich Rattle ganz auf die postromantische Musik ein, und gestaltete die Töne des Schmerzes und der Anklage ohne jede Distanz. Auch dass im Scherzo Mahler und Ravel miteinander verquickt sind, wenn in ihm ein Walzer über dem Abgrund getanzt wird, kommt Rattle entgegen. Mit all seiner Erfahrung verschenkte er die Katastrophen-Akkorde nicht als verbrauchte, oft gehörte Effekte, sondern lässt in ihnen Erinnerung aufleuchten. So rettete er das Werk vor dem Verdikt der Avantgarde, die den Kopf darüber schüttelt, dass solche Musik heute noch geschrieben wird.

Ihren Höhepunkt erreichte die Aufführung im Schlusssatz, auch weil er wohl der beste, weil eigenständigste Satz des Werkes ist. In ihm komponierte Turnage, wie er es selbst ausdrückte, ein expressives Lied auf Evan und rettete, in dem er seine Stimme durch das Orchester durchklingen ließ, ihren Klang vor dem Vergessen. Die frei fließenden Kantilenen in Viola und Violoncello finden sich zu einem Dialog und lassen die Frage offen, wer hier mit wem spricht. Wenn ein Quartett aus Violen sich kurz vor Schluss in die hohen Regionen der fehlenden Violinen wagen, artikulieren sie einen so nie gehörten Ton, den Sprache nicht fassen kann. Den Streichern ist der Schmerz gegeben, in den Bläserakkorden objektiviert sich die Trauerarbeit. Nach der Aufführung betrat der sichtlich beeindruckte Komponist das Podium und applaudierte den Musikern.

Nach der Pause erklang BrahmsSerenade Nr. 2 in A-Dur. Mehr noch als bei Dvořák ist es hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, dass sich im Wort Serenade das lateinische serenus, heiter, mit dem italienischen la sera, der Abend, verbindet. Auch ist es gut zu wissen, dass Brahms diese oft als Vorstudie zur Symphonie verkannte Serenade sehr schätzte. Daran, dass er als der Vergrübelte unter den Komponisten gilt, hat er selbst mitgearbeitet und so fast vergessen lassen, dass er kaum etwas mehr bewunderte als Mozarts errungene Heiterkeit. Und als ein in diesem Sinne heiteren Brahms haben Rattle und die 29 Orchestermitglieder die Serenade auch musiziert – ohne dabei über die dunklen Stellen der Partitur hinweg zu musizieren. Fast bedrohlich verirrt sich die Harmonik am Ende der Durchführung in harmonische Tiefen und findet erst die Grundtonart, dann das Thema vom Beginn wieder. Wie fein ist das herausgearbeitet! Im dritten Satz wurden unheimliche Töne hörbar, wenn Brahms Bach im Passacaglia-Bass wie eine Schattengestalt aus dem Dunklen im 12/8-Takt hervortreten lässt, über dem Flöten und Klarinetten ihren Gesang entfalten, der noch frei kanonisch geführt ist. Ein einziger verminderter Septimen-Akkord lässt sie Szene wechseln und öffnet die Bühne, um mit Hornklängen und der Melodie der Klarinette die romantische Nacht in As-Dur zu zelebrieren.

Noch 1875 empfahl Brahms den Wiener Philharmonikern ein besonders gewissenhaftes Probieren, um die Feinheiten der Partitur angemessen zur Geltung zu bringen. An dieser so sorgfältigen wie intelligenten Darbietung durch die Berliner Philharmoniker unter Rattle dürfte er seine helle Freude gehabt haben.

****1