Der Dirigent Franz Welser-Möst wurde im oberösterreichischen Linz, ganz in der Nähe der Wirkungsstätte Anton Bruckners mit Stift Sankt Florian und Ansfelden, musikalisch sozialisiert. Seit jeher besticht Welser-Möst durch einen ganz intuitiven Zugang zu den Werken Bruckners, jedoch führt er die Symphonien des Komponisten für gewöhnlich mit seinem US-amerikanischen Cleveland Orchestra, besonders bei Orchestertourneen, auf. Mit den Wiener Philharmonikern hingegen ist Welser-Möst mit Ausnahme der auch in diesem Konzert beim Lucerne Festival erklingenden Neunten eher selten in die Sphären seiner Musik eingetaucht. Vom Komponisten selbst „dem lieben Gott” gewidmet und mit Elementen des Abschieds und des Todes gefüllt, ist die Symphonie auch ein Werk der Unvollständigkeit.

Mit den Wiener Philharmonikern nun, mehr noch als bei den Aufführungen aus Cleveland, arbeitete Welser-Möst heraus, dass ihn jene persönliche Exegese hinter dieses mit-sich-ringende, religiöse Pathos des Komponisten hat blicken lassen. Dabei negierte Welser-Möst keinesfalls die ihn mit Bruckner verbindende Herkunft, vielmehr wusste er diese nicht zu überhöhen. So interpretierte er Bruckner aus seiner musikalischen Tradition heraus, welche stets die Form als maßgebendes Element verstand. Eben jene tief unter der Oberfläche der Partitur entwickelte Kompromisslosigkeit Welser-Mösts war es auch, welche diesen Bruckner so unaffektiert und authentisch wirken ließ. Alles erklang eher intellektuell und weniger emotional angelegt in einer klar kalkulierten Struktur und mit einem stets vorantreibendem, peitschendem Puls in einem dichten Klangbild bei markerschütternder Lautstärke.
Gerade in den lyrischen, auch zahlreiche liebliche und friedliche Elemente beinhaltenden Passagen des Adagio gestaltete Welser-Möst so manches in karger, abgeklärter Schlichtheit. Welser-Mösts Bruckner stand den inneren Strukturen eines Beethovens oder Schuberts näher als den diesen Komponisten umwebende Mythen einer fernen, von ihm antizipierten Moderne.
Denn zuvor folgte im ersten Teil des Konzerts das Werk eines anderen Komponisten Österreichs, welches von seinem geistigen und moralischen Gehalt nicht unterschiedlicher hätte sein können: Die Symphonischen Stücke aus der Oper Lulu von Alban Berg, mangels einer Sopranistin unter Auslassung des „Lieds der Lulu“. Ausgerechnet Lulu: Eine Figur dessen sexuellen Selbstbestimmung und nicht zu bändige Triebhaftigkeit so gar nichts mit diesem tief in der religiösen Tradition der katholischen Kirche verwurzelten Komponisten Anton Bruckner gemein zu haben scheint.
Kaum ein Orchester weiß die Klangsprache der Neuen Wiener Schule und ihrer Musik der Zwölftontechnik derart präzise und ausdrucksvoll umsetzen wie die Wiener Philharmoniker. Und mit Welser-Möst am Pult gelang es ihnen in expressiver Art, diese vertrackte und technisch komplexe Partitur Alban Bergs, welche bei Verzicht der Gesangsstimmen doch recht schwierig ins Gehör zu bekommen ist, in eine imponierende Klangsprache zu verwandeln.
Wo Welser-Möst seinen Bruckner ausgefallen nüchtern und erdenverbunden musizierte, erzeugte er im Adagio dieser Suite, hier wird der unaufhaltsamer Abstieg der Protagonistin mit einem Todesschrei als Kulminationspunkt beschrieben, ein rührendes Mitgefühl für Lulu. Der Dirigent ließ die nicht zu entschlüsselnde Titelfigur als eine dahinscheidende Heldin, geradezu wie „ein Engel“, um es mit den Worten der Gräfin Geschwitz, ihrer Gefährtin, auszudrücken, verklären.
Dieser so genial wie unerwartete Kunstgriff Welser-Mösts, den amoralischen Berg mit seiner Lulu über einen klanglich geerdeten Bruckner zu glorifizieren, war es, welcher diese beiden konträren Komponisten Österreichs in ihrer musikalischen Dramaturgie umso enger miteinander verband. Bedauerlicherweise entzündete der Funke dieses etwas geistlosen, zugleich raffiniert durchgearbeiteten Bruckners im Publikum wenig Begeisterung: Welser-Möst und die Wiener Philharmoniker erhielten einen sehr verhaltenden, kurzen Applaus. Welser-Möst wurde nicht noch einmal hervorgejubelt und so verzichtete man kurzerhand auf Ovationen für die individuellen Orchestergruppen und Solisten.