Was für ein furioser Einstieg: Matthias Pintscher, der frischgebackene Chefdirigent des Kansas City Symphony entführt sein Orchester direkt am Anfang seiner ersten Spielzeit über den großen Teich zu Konzerten in Amsterdam, Hamburg und Berlin. Im musikalischen Rucksack hat das Orchester mit Ives, Gershwin und Bernstein bekanntes heimisches (nordamerikanisches) Repertoire. Zum Tourneeauftakt in Amsterdam hatte das Orchester zudem eine ganz große Überraschung, einen richtigen Knaller parat. Zur frenetisch erklatschten Zugabe brachte Maestro Pintscher ganz in Rot gekleidet keine Geringere als Joyce DiDonato mit auf die Bühne. Sie hat diese Woche noch Konzerte in Finnland und Dänemark (mit ihrem ehrgeizigen raumgreifenden Tourneeprogramm Eden) und war vorbeigekommen, weil sie ein absoluter Fan des Orchesters ihrer Heimatstadt ist und das soziale Engagement des Orchesters in ihren eigenen Worten „fantastisch“ findet.

Es war gewöhnungsbedürftig, den Komponisten und Verfechter zeitgenössischer Musik, Matthias Pintscher, der die letzten zehn Jahre das französischen Ensemble intercontemporain immer wieder mit anspruchsvollen Uraufführungen leitete, auf einmal mit einem Gassenhauer-Programm touren zu sehen. Zum „Abgewöhnen“ hatte er zumindest ein Werk von Charles Ives, dem als Versicherungsvertreter vermummten amerikanischen Musikrevolutionär mitgebracht.
Ives wurde stark von seinem Vater beeinflusst, der während des Amerikanischen Bürgerkrieges Leiter einer Blaskapelle war und das Publikum mit erbaulichen Hymnen einstimmte. Diese Hymnen verarbeitete, man könnte auch sagen versteckte, Ives in seiner Musik zusammen mit beliebten Volksliedern. In seinem dreiteiligen Werk Three Places in New England, entstanden zwischen 1911 und 1914, porträtiert er in seinem eigensinnigen Patchworkstil nacheinander ein Denkmal in Boston zu Ehren der gefallenen schwarzen Soldaten im US Bürgerkrieg, ein anderes Denkmal zu Ehren von General Israel Putnam und den Housatonic River bei Stockbridge in Massachusetts. Pintscher und sein neues Orchester waren überraschenderweise schon bestens aufeinander eingespielt: Vor allem die plötzlichen Stimmungswechsel und das abrupte Ende des zweiten Satzes sorgten für erste Gänsehautmomente.
Das Publikum kam aber natürlich in erster Linie für George Gershwins beliebte Rhapsody in Blue. 1924 wurde diese mittlerweile zum Bestseller avancierte Komposition noch etwas umständlich als „Experiment der Modernen Musik” vorgestellt. Inzwischen ist sie jedoch so etwas wie die Erkennungsmelodie des Broadway-Komponisten geworden. Die eingängigen Jazz- und Blues-Melodien wurden von den hervorragenden Bläsersolisten lässig herausposaunt, dass es eine wahre Freude war. Dazu würzte der 30-jährige Pianist Conrad Tao, der von der New York Times schon zur „Zukunft der klassischen Musik” geadelt wurde den Solopart mit so viel eigensinnig virtuoser Grandeur, dass man dieses Klavierkonzert mit ganz neuen Ohren anhören konnte. Tao ist der Nigel Kennedy unter den jungen Klavierlöwen und hat dazu die wunderbare Gabe, den Nerv dieses „Jazz trifft Klassik” Oldtimers genau zu treffen und sie damit mächtig zeitgemäß aufzuputzen. Zum 100-jährigen Geburtstag dieses Glückstreffers der Musikgeschichte ist dies genau die richtige Herangehensweise!
Statt Coplands Dritter Symphonie standen in Amsterdam Bernsteins Symphonische Tänze aus der West Side Story und Maurice Ravels Rapsodie espagnole auf dem Programm. Schwungvoll, frech und präzise, mit eleganten Übergängen und vollmundigem „Mambo“ aus 100 Musikerkehlen raste der gut geölte Kansas City Express durch Bernsteins Klassiker. Da blieb kein Auge trocken! Nur das Finale geriet ein wenig in die Länge und verlor den musikalischen Faden, als wollte das sanft-traurige Ende nicht ganz zum amerikanischen Traum passen.
Mit dem so gar nicht zum Programm passen wollenden Ravel hatte es Pintscher dem Orchester schwer gemacht. Das stimmungsvolle Prélude á la nuit war wenig subtil und der impressionistische Farbenteppich etwas zu dick aufgetragen. So verirrte sich das feine spanische Garn manches Mal ins folkloristisch Künstliche.
Aber das Beste musste ja noch kommen. Von Pintscher nonchalant als „Partycrasher“ angedeutet, brachte Joyce DiDonato herrlich aufgelegt erst Oh Shenandoah zu Gehör und hatte das Publikum gleich mit den ersten Noten an ihren Lippen hängen. Ihr vollkommen entspannter, bittersüßer Vortrag war ein Moment für die Ewigkeit. Das Orchester begleitete sie wie auf Freiersfüßen. Mit Harold Arlens Over the Rainbow verabschiedete sich der Überraschungssuperstar leider viel zu früh aber auch mehr als bravourös von Amsterdam. Man hätte ihr noch stundenlang zuhören wollen.