Schon mehrfach Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchungen, widmet sich die 26. Ausgabe der Magdeburger Telemann-Festtage jetzt überdies musikpraktisch der Beziehung zwischen und der „Trendsetter“-Bedeutung Georg Philipp Telemanns und seines anhaltinischen wie in Hamburg verwurzelten Kollegen Reinhard Keiser, der dieses Jahr 350. Geburtstag feierte. Neben dem Gemeinschaftstun an der Hamburger Gänsemarktoper etablierten beide Komponisten das protestantische, nord(-mittel)deutsche Oratorium. Hauptkirchen-, Opern- und Generalmusikdirektor Telemann sowie früherer Opernintendant und späterer Domkantor Keiser vor allem auch das Passionsoratorium, sprich die Vertonung Jesu letzter Stunden auf freie Libretti namhafter bürgerlicher Dichter, dessen deutschsprachig festgehaltenen Startschuss Keiser mit Christian Friedrich Hunold (genannt Menantes) 1704/05 gab.

Er sollte dieses und andere Nachläufer so beliebt machen, dass sich – dann mit Texter Barthold Hinrich Brockes auf Menantes' Vorlage, unleugbar opernhaft geprägt – Versionen von ihm, Telemann, Mattheson, Gottfried Heinrich Stölzel und Carl Heinrich Graun zu Best-of-Pasticcioformen mit Georg Friedrich Händels und Johann Sebastian Bachs Aufgriffen herausformten. Jenes Ausgangsoratorium, Der blutige und sterbende Jesus, kam 13,5 Jahre nach dessen neuzeitiger Erstaufführung (in von Keiser 1729 nochmals überarbeiteter Variante) durch Cantus Thuringia nun beim Festival mit dem Ensemble Vox Luminis zu Gehör, das in exakt drei Wochen seinen 20. Gründungjahrestag begeht. Anstelle eigener Leitung in den Reihen der Vokalisten bat Lionel Meunier dabei diesmal wieder Peter Van Heyghen, den Dirigentenpart zu übernehmen, hatte der belgische Raritätenexperte zuvor mal mit Meuniers Gruppe Keisers Brockespassion realisiert.
Da Van Heyghen allerdings kurzfristig erkrankt war, sprang sein belgischer Spezialistenkollege Florian Heyerick ein, der die Aufführung mit seiner ganzen beschlagenen Erfahrung sowie dank Vox Luminis‘ sowieso voraussetzungserleichternd höchstprofessionellen und generell genrebeheimateten Qualität umsichtig über die Bühne brachte. Von diesem Schlage war auch als demütiger, sich in den Dienst und das Schicksal stellender, doch natürlich in menschlicher Verzweiflung opferfragend nahbarer Jesus mittlerweile zur Barockbaritonlegende gewordener Peter Kooij, einer von Meuniers Ausbildern. Er befand sich damals bei Keisers Brockespassion ebenfalls mit an besetzungsprominentem Bord. Seiner Stärke angenehmen und weichen Lageneinsatzes konnte er besonders im Ariosen Geltung verschaffen, während er die letzten Jesusworten mit erbleichender Timbrierung versah. Die grundstimmig allerdings vertrauensbasierte Haltung Jesu korrespondierte mit Vox Luminis‘ beistehender, mitfühlender Wärme in den karkontemplativen Christen-Chorälen, die – heute eben – selbstverständlich den Turbachören gegenüberstanden. In ihnen attributierte das deklamations- und verständigungsoptimale, klangkonforme Ensemble mit leicht dramatischerem Biss, ohne mit zu spitzen Zähnen und Zungen grelle Kontrastblitze auszusenden. Am auffälligsten dabei – wenngleich affektive Nuancen und theatralische Steigerungstendenzen deutlich waren – der berüchtigte, traditionell ohnehin effektvolle „Pfui“-Chor der Kriegsknechte, dessen Ausrufe mit überraschenden Fingerpfiffen Clara Steuerwalds unterlegt wurden.
Drei ihrer Soprankolleginnen teilten sich – zusammen mit dem phrasierungs- und farbeleganten Mezzo Sophia Faltas‘ – die Rolle Tochter Zions. Zsuzsi Tóth, Caroline Weynants und Erika Tandiono begleiteten Jesu dezent und lieblich rein, auch in teils hoheliedlicher Zuneigung; letztlich in Schmerz und österlicher Hoffnung mit Maria vereint, die von Stefanie True mit bestechender Vokal-, dehnender Betonungs- und Vortragsklarheit, zudem phrasierungstalentierten Höhezugängen gegeben wurde. Fiel Raffaele Giordani dagegen mit zu härtlichem, dramagewollten, unfeineren Agieren als Petrus heraus, erfüllten Richard Resch mit wirkungsgrößtem, kernig-tragfähigstem Solotenorunterbau als Judas sowie Sönke Tams Freier (bei neuzeitlicher Erstaufführung bereits dabei) als Kaiphas respektive Vincent Berger als Pilatus mit jeweils beweglichen, stilistisch akkuraten und resoluten, engagierten, volumenpräsenteren, aber dabei leichten Bassbaritonen ihre Aufgaben bestens.
Als verlässliche Bank bestätigte sich das Vox Luminis-Orchester – ausgestattet mit Piccolocello –, selbst wenn das arpeggierte Vorhangsriss-und-Beben-Intro, das Keiser der Geige zuweist, bei Konzertmeister Tuomi Suni nicht vollends blanksauber geriet. Cellist Ronan Kernoa – mitunter mit Gambenbogentechnik am Werk – bildete dabei mit Riccardo Casamichiela ein effizient-harmonisches Continuo. So wie Rodrigo López Páz die Aufführung mit seinem fast unvergleichlich klangdistinguierten wie -prächtigen Oboenspiel beehrte, trug sich Vox Luminis insgesamt abermals gewandt ins besondere Raritätenstammbuch ein.