Sekundenlang verharrt Sir Simon Rattle nachdem der letzte Ton von Gustav Mahlers Sechster Symphonie verklungen ist, kein Laut ist aus dem Publikum zu vernehmen. Dann zögerlicher Applaus, schließlich brechen sich stehende Ovationen für das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und seinen neuen Chefdirigenten Bahn. Atemraubend – atemberaubend ist dieser Abend beim Musikfest in der Berliner Philharmonie. Die Begeisterung des Publikums ist der Abschluss einer Symphoniedarbietung, die vom ersten Moment an die Zuhörer*innen in ihren Bann reißt und eine besondere Magie versprüht.

Sir Simon Rattle © BR | Astrid Ackermann
Sir Simon Rattle
© BR | Astrid Ackermann

Schicksalsmarschierend stürzen sich Orchester und Dirigent in den Beginn des Hauptsatzes. Selten hat man seinen stampfenden Rhythmus so griffig unheilvorausverkündend gehört. Von Beginn strebt die Symphonie an diesem Abend ihrem fatalistischen Ende entgegen. Brodelnd-berstend, zwischenzeitlich sehnsuchtsvoll-andächtig nach kleinen Inseln der Idylle suchend und findend, gestaltet Rattle das Allegro energico, ma non troppo. In den Wiederholungen zeigt Rattle dabei große Flexibilität, sie sind kein Abziehbild des Vorangegangenen, sondern nachdenklich stimmende Variationen.

Die Musiker*innen des BR-Symphonieorchesters folgen ihrem neuen Chef dabei körperbetont und fein artikuliert. Immer wieder flirrende Streicher, schneidendes Blech, tiefgründiges Holz – Rattle und sein Orchester machen Mahlers „Tragische“ von Anfang an zu einer Achterbahnfahrt der Gefühle. Als die letzten fulminanten Töne des ersten Satzes verklungen sind, ist ein deutliches Aufatmen im philharmonischen Rund zu hören.

Statt weiterem martialischem Schicksalskampf gönnt Rattle den Zuhöre*:innen anschließend eine kurze Verschnaufpause. Auf den ersten Satz folgt das Andante moderato, also die Reihenfolge der Binnensätze wie sie auch der Komponist im Gegensatz zur ursprünglichen Komposition zeitlebens aufführte. Traumwandlerisch und voller abgründiger Schönheit bewegt sich das BRSO durch den langsamen Satz. Immer wieder brillieren die Solist*innen des Orchesters mit gefühlsbetonten Einsätzen, nahezu elegisch schweben sie über den samtweichen Streicher*innen. Rattle betont dabei stets die lyrische gar dialogische Seite des Andantes, ohne je den großen Bogen der Symphonie in Vergessenheit geraten zu lassen.

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Mahlers Sechste Symphonie mit dem BRSO und Sir Simon Rattle
© BR | Astrid Ackermann

Und dann ist er doch da, der Abgrund. Bei Rattle ist der Sturz in das Scherzo. Wuchtig ein erstaunlich organischer. Dabei nimmt der Dirigent Mahlers „wuchtige“ Direktive wortwörtlich, ohne jedoch klangliche Finesse und akkuraten Feinschliff missen zu lassen. Auch hier setzt Rattle wieder auf Variation: Im Verlauf des Satzes scheint sich das Motto des Scherzos in mit Schelm, Charme und Mut zu wandeln. Verschmitzt-hintergründig statt wuchtig oder tänzerisch-wandlerisch navigieren sich Orchester und Dirigent durch den dritten Satz des Abends.

Von Beginn an des finalen Satzes inszeniert Rattle den ewigen Kampf mit dem Fatum als lebensbejahendes Erforderlichkeit. Mit geschickter Tempogestaltung führt er das Orchester immer wieder zu sich aufbäumenden Höhepunkten, schafft es so den fast halbstündigen Satz nahezu an den Zuhörer*innen vorbeifliegen zu lassen. So klingen die Hammerschläge des Schicksals an diesem Abend noch brutal-fatalistischer als ohnehin schon.

Dabei setzen Orchester und Dirigent auf absolute Durchhörbarkeit, die auch kleinste Details sichtbar macht. Eine bravouröse Leistung bei den sich entgegenstrebenden Elementen der Partitur. Dann bricht er herein, der letzte Fortissimo-Ausbruch – und plötzlich ist sie weg, die lebensbejahende Hoffnung. Keine Zuversicht, nirgends. Zum Glück hebt der Applaus des Publikums die Stimmung im Saal schnell wieder, auch wenn die Gedanken an diese Sechste Symphonie Gustav Mahlers noch lange bleiben und das Davorgewesene fast verdrängen.

Aufhorchen ließen zwar auch Paul Hindemiths Rag Time (wohltemperiert) als pointiert-pulsierender Start in den Abend, bei dem zwar das ganze Orchester glänzen kann aber dennoch eher deutsch denn amerikanisch-tänzerisch klingt sowie Alexander von Zemlinskys Symphonische Gesänge mit Lester Lynch als beschwörerischer Bariton-Solistin und klangfeinteppichwebenden BR-Symphonieorchester, doch an diesen Mahler kommen sie beide nicht heran.

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