1913, anlässlich der Premiere von Igor Strawinskys Le sacre du printemps las man im Figaro: „Die Franzosen fangen ohne Weiteres an zu protestieren , wenn die Dummheit ihren Tiefstpunkt erreicht hat”. Das Pariser Publikum und mit Sicherheit auch die beteiligten Musiker waren schlicht überfordert ob der unerhörten Tonsprache Strawinskys. Nun ist die Ballettmusik zu L’oiseau de feu (Feuervogel), welche das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Sir Simon Rattle zum Besten gab, nicht annähernd so radikal wie Sacre oder die dazwischen verfasste Petruschka. Aber auch beim Feuervogel geht Strawinsky deutlich weiter als selbst sein Instrumentationsprofesssor Nikolai Rimsky-Korsakov, den er mit ponticello-, col legno-, flautando-, glissando- und Flatterzungen-Effekten zu überbieten suchte – und dies auch erreichte.

Sir Simon Rattle © BR | Astrid Ackermann
Sir Simon Rattle
© BR | Astrid Ackermann

Die technischen Anforderungen an das Orchester und den Dirigenten sind schon individuell enorm. Dieses Ballett zudem noch aus einem Guss und mit einer zwingenden Dramaturgie darzubieten, welche märchenhafte Bilder unmittelbar in den Gehirnen der Zuhörer erschafft, das ist allerhöchste Kunst. Und so kann man im Gegensatz zum Figaro des Jahres 1913 nach diesem Konzertabend des Jahres 2025 konstatieren: Die Münchner fangen ohne Weiteres an zu jubeln, wenn der Rausch seinen Höhepunkt erreicht hat.

Der Höhepunkt des musikalischen Rausches war das Finale des Feuervogels, wenn im zweiten Bild der Palast des bösen Zauberers Kaschtschejs und seine Zauberwelt versinken und die versteinerten Ritter ins Leben zurückkehren. Beim so genannten Höllentanz des Zauberers Kaschtschejs liefen die Musiker nochmals zu Höchstform auf. Packend präzise Blechbläser, unerbittlich voranschreitende Xylophon-Passagen, perfekt austarierte Holzbläser, schwungvolle und höchst konzentrierte Streicher: das war das Rezept für ein musikalisches Erlebnis der Extraklasse.

Und als dann der Solohornist Carsten Carey Duffin jenes Hornsolo unfassbar schmelzend anstimmte, das die Coda einleitet, da war wie von Strawinsky vorgesehen die allgemeine Freude bereits vollends ausgebrochen. Nach den verwegenen Akkordschichtungen der Trompeten und Posaunen konnte man nicht anders als in Jubel auszubrechen.

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Sir Simon Rattle dirigiert das BRSO
© BR | Astrid Ackermann

In der ersten Hälfte des Konzerts stand die Symphonie Nr. 2 C-Dur, Op.61 von Robert Schumann auf dem Programm. Die einzige kleine Unsicherheit des Abends war der Beginn der Blechbläserfanfare, die im Pianissimo den ersten Satz einleitet, suchend aus der Ferne. Doch schon mit dem ersten pointierten Hauptthema waren die Musiker des BRSO voll da und präsentierten ihren kompakten, packenden Sound, der dieses Orchester zum besten Radioorchester und einem der besten Orchester der Welt macht. Den zweiten Satz ließ der souveräne Simon Rattle irrwitzig schnell, ja irrlichternd rasant anstimmen; und dennoch gelangen die vertrackten musikalischen Zwiegespräche der Streicher höchst präzise und fein artikuliert.

Die Stimmungswechsel der Symphonie welche Schumann nach langen depressiven Phasen 1845/46 komponierte und mit der er sich gesundschrieb, hatte Sir Simon akribisch mit dem Orchester herausgearbeitet, so dass die Musiker traumwandlerisch durch die Partitur schwebten. Besonders ergreifend war im Adagio espressivo neben hervorragend dargebotenen Soli einzelner Musiker der Beginn der Fugenmotive in der Mitte des Satzes, die Rattle nach einer kurzen Zäsur aus dem Nichts erklingen ließ. So sanft und zaghaft tastend hat man diese Stelle noch nie gehört, Gänsehaut pur!

Als am Ende dieses wunderbaren Konzertes die Orchestermusiker ihre Pultnachbarn herzlich verabschiedeten, da wollte man es ihnen gleichtun und seine Sitznachbarn umarmen. Oder warum nicht gleich die ganze Welt?

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