Vor 11 Jahren haben Daniel Barenboim und Pierre Boulez einen viel beachteten Mahler-Zyklus in Berlin mit der Staatskapelle gegeben. Zur Eröffnung der Festtage 2018 hat Barenboim mit den Wiener Philharmonikern nun die Siebente Symphonie aufgeführt. Barenboim sagte einmal, dass es ihm schon immer darum gegangen sei, Mahler zu entpsychologisieren und als einen Komponisten aufzuführen, der mit einem Bein im 19. mit dem anderen im 20. Jahrhundert stehe. An einem anderen Ort  sprach er davon, dass man eine „archäologische Grabung vorzunehmen“ habe, wenn man sich diesem Werk zuwende. Wohl darum hält er sich von grellen Überzeichnungen fern und sucht auch nicht in jeder Passage ein „Dahinter“ oder ein „Als-Ob“ – und das tut seiner ungemein gestrengen Aufführung sehr gut.

Der erste Satz der Siebenten ist nicht nur schwer zu dirigieren, sondern auch schwer zu hören. Einmal exponierte Themen verändern ihren Charakter ständig, kehren nie in derselben Gestalt wieder, in der sie einmal erklungen sind und nehmen mitunter sogar den Charakter der ihnen zunächst als Kontrast gegenübergestellten Themen an. Aus diesem Verschwinden und Wiederauftauchen von Motiven und Themen entsteht der Formzusammenhang dieses Riesensatzes. Dies zu gestalten, nimmt Barenboim als die ihm gestellte Herausforderung an. Und er bewältigt sie dank seiner reichen Erfahrung, die er mit anderen großen unübersichtlichen Formgebäuden besitzt, schlicht grandios. Im Zentrum des Satzes haben die beiden Hauptthemen für einen großen Augenblick „Freundschaft geschlossen“ und sind, von Fanfaren angekündigt, zu einer Gestalt verwachsen. Barenboim wusste die ganze Form auf diesen erhabenen Moment auszurichten und den Höhepunkt mit der größten Hingabe zu dirigieren. Die Musiker folgten ihm und setzten an dieser Stelle ihrer ohnehin schon atemberaubenden Orchesterkunst noch ein i-Tüpfelchen auf.

In der Aufführung der drei folgenden, häufig etwas unterschätzten Mittelsätze, die Mahler zuerst komponiert hatte, ließ sich Barenboim nicht dazu verleiten, etwas an ihnen zu ironisieren oder gar fratzenhaft zu entstellen, wie dies bei anderen Dirigenten leider oftmals der Fall ist. Die erste Nachtmusik ist in sich ganz symmetrisch aufgebaut. Barenboim nahm den Hörer bei dieser nächtlichen Wanderung, die am Ende an ihren Ausgang zurückführt, an die Hand. Und die Musiker entlockten ihren Instrumenten wunderbare nächtliche Farben, um diesem Satz ein geheimnisvolles Wesen zu geben. Im Zentrum der Symphonie steht, wie auch in der Fünften Symphonie, nur hier nicht so gewichtig wie dort, das Scherzo – „schattenhaft“ schreibt der Komponist darüber. Mahler verfremdet in ihm einen Walzer. Doch Barenboim hütete sich davor, Mahler als kritischen Geist hervorzukehren, der beim Komponieren über die Höhen und Tiefen der Musik reflektierte. Stattdessen ließ er einen wunderbar hofmannesken Gespensterreigen zu Gehör kommen, der zu seiner Wirkung nichts Ätzendes oder sonst wie überscharf Gewürztes benötigt. Im vierten Satz erscheint dann erstes Licht am Horizont; singulär in Mahlers Schaffen ist diese eine mit Mandoline und Gitarre besetzte Serenade. In all ihrer Zerbrechlichkeit ist dieses Stück, dank pastellfarbener Instrumentation, als Musik über Musik zu hören, und wurde darum zu Recht etwas distanziert und stilisiert aufgeführt.

Auch wenn das Finale der formal leichtgewichtigste Satz ist, stellt seine Aufführung den heikelsten Teil einer Aufführung der Siebenten für Dirigenten und Orchester dar. Seit Adorno wird dieser Satz im Vergleich zu den übrigen Sätzen abgewertet, weil es ihm angeblich an Tiefe fehle. Barenboim ließ sich auf derlei Vereinnahmung erst gar nicht ein. Er nahm die einfache Diatonik und den klaren Formaufbau des Satzes als das, was beides wohl in ihrer verblüffend einfachen Absicht sind: die taghelle Antwort auf die dunklen Kompliziertheiten der ersten drei Sätze. Es gehört viel Mut dazu, diesen Satz mit solchem Schwung und solchem Glanz zu musizieren, statt sich über seinen Pomp zu erheben oder die kontrapunktische Geschäftigkeit wenn nicht zu verspotten, so doch in Anführungszeichen zu setzen. Barenboim wollte dem Adorno-Klischee offenbar nicht gehorchen, dass Mahler ein schlechter Ja-Sager gewesen wäre, der Apotheosen nicht komponieren könnte, weil er sie gar nicht komponieren dürfte. Und seine grandiose Aufführung gab ihm Recht, mit diesem Klischee zu brechen.

Barenboim sagte einmal, dass, um Mahler zu dirigieren, ein erstklassiges Orchester unabdingbar wäre. Nun, er hatte eines eingeladen. Für den großen Dirigenten kommen die Wiener Philharmoniker seit vielen Jahren zur Eröffnung der Festtage nach Berlin und der hier mit Orchesterkultur durchaus verwöhnte Hörer weiß diesen Kulturluxus zu schätzen.

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