Mitte des 18. Jahrhunderts war Mannheim der Place to be. Dort konnte man bestaunen, wie der kunstsinnige, beliebte und an der Zukunft ausgerichtete Kurfürst Carl Theodor, dessen 300. Geburtstag und 225. Todestag man dieses Jahr gedenkt, sich zu einer Art Role Model in politischer Führung entwickelte und auch durch kulturelle, ökonomische Blüte das wegweisendste, nun zudem beste Orchester Europas unterhielt. Nach dem Tod von Kapellmeister Johann Stamitz ging die Leitung der Hofkapelle an das große Talent Christian Cannabich über, den Wolfgang Amadeus Mozart – nach Rat seines Vaters Leopold, sich bei ihm „einzuschmeicheln“ – als guten Freund schätzte, bei dem und dessen Familie er ab 1777 öfter einkehrte, nächtliche „Sauereyen reimte“ und mit Tochter Rosine Klavier übte. Auch im von Salzburg viel nähergelegenen München trafen sie aufeinander, als Carl Theodor seine Residenz samt Hofstaat und Musiker mit Übernahme der Wittelsbacher Kurpfalz Bayern dorthin verlegt hatte.
Gemeinschaftliches Projekt war dort 1780 mit Uraufführung am 29. Januar 1781 die vom frankophilen Kurfürsten in Auftrag gegebene Oper Idomeneo auf ein Libretto Giambattista Varescos nach Vorlage der im Januar 1712 veröffentlichten Tragédie Antoine Danchets, zugleich in Musik gesetzt von André Campra. Freilich also in italienischer Sprache der Opera seria und mit Happy End. Jene Erstfassung mit allerhand Strichen – gemeint sind nicht die Bogenzeichen des Konzertmeisters, sondern Kürzungen – gab es bei den diesjährigen Tagen Alter Musik in Herne unter dem Motto „Reduce – Reuse – Recycle“ zu erleben. Das mit der Mannheimer Schule gut vertraute Helsinki Baroque Orchestra unter Aapo Häkkinen stellte sie zum traditionellen opernkonzertanten Festivalabschluss vor.

Dabei ist das HeBo heute eines der besten Originalklangorchester Europas sowie ein Aushängeschild Finnlands und des gesamten hohen Nordens, was es in absoluter Verlässlichkeit beim Idomeneo unter Beweis stellte, wenngleich manch nordische Stereotype der Zurückhaltung und Kühle Häkkinens bei einzelnen Tempofragen und der generellen Dramatisierung nicht gänzlich von der Hand zu weisen war. Von jener Reduzierung in dieser Hinsicht – im wohlwollendsten Sinne nahm der bei einigen Rezitativen zum Cembalo greifende Häkkinen hier das Festivalmotto nur sehr umfassend ernst – durfte sich allein in konstanter Weise die Schicksals-und-Kriegs-Pauke Heikki Parviainens fühlen, die immer wunderbar kräftig losfeuern konnte im ansonsten eben eher mathematisch-akademischen, der Struktur und heraushörbaren Stimmwertigkeit untergeordneten, nicht zu überhitzten Interpretationsbasis.
Mit dem Schlagwerk, wozu noch Neptuns Lautmalreich der Windmaschine und des Donnerblechs gehörten, ließ Häkkinen in den festlich-strotzenden Momenten zudem natürlich die Trompeten strahlen. Instrumentaltheatralisch sein Potenzial und Können am besten präsentieren durfte das mit brillanten, akzentuierten Streichern und formidablen Hörnern besetzte Orchester zunächst bei Elettras Hineinkommen mit anschließendem SOS der Schiffbrüchigen mit hälftig nach vorne und hinten gewandten Herrenchorstimmen. Dann bei Idamantes Arie „Il padre adorato“ und letztlich bei Elettras wütendem Abgang zum Finale, bei dem die von Zóltan Pad einstudierte Zürcher Sing-Akademie die gelöste Würde zur Rettung Kretas Krone im stets mit dem HeBo aufrecht erhaltenen Schönklang einbringen konnte. Eine Kombination, die textverständlich war, auch in den unterschiedlichen Handlungserscheinungsformen des Chores die nötige, homogene Griffigkeit und Grundfrische bei zuversichtlicher Geschmeidigkeit und phrasierungsdynamischer Gewandtheit aufwies, allerdings – ja, nunmal trotz Häkkinens Vorstellungsentgegenkommen – gerne noch mehr Schreckenswuchteffekt hätte zeigen dürfen.
Ungeheuer auf meiner Wellenlänge des Geschmacks lag Mari Eriksmoens Ilia, deren phänomenal elegante Soprankultiviertheit und -führung in überzeugender Affekt- und versierter Stileinbettung sowie klarste, warm-weiche Artikulation und Färbung nicht einnehmender ging – und das hervorragend abgestimmt auf den trockenen Saal des Kulturzentrums! Kein Wunder damit, dass sich Idamante für diese Attraktivität entschied, obwohl Siobhan Staggs Elettra-Sopran die Wahl wirklich schwer machte, als dieser mit etwas mehr Vibrato in üppiger Süße, aber weiter in der Raserei verständlich, dazu gleichzeitig doch lieblich-dezent im Bezirzen im wahrsten, unmittelbarsten Sinne des Wortes reizvoll faszinierende Höhenkontrolle und -Beweglichkeit mit Registereinsatz zu verbinden verstand.
Jener Idamante, bei Liebeskummer und menschlichem Opferfutter zwischen Stolz und Gebrochensein, schien bei Anna Lucia Richter fast wie von Mozart „feurig“ gewünscht. Dabei ging ihre grundlegende, vibratofülligere, doch stets technikgerüstete Mezzoinbrunst erst ein wenig zulasten der Verständlichkeit und Ausdrucksflexibilität, welche sich über die Zeit – hier mit entsprechend angenehmer, passender Reduzierung des zuvor Vorstechenderen! – dann auch ihren Weg bahnte, besonders im (Mezzo)Piano und den sich einfügenden, allesamt stimmigen Ensembles mit den Solistenkollegen.
Großes Lob geht an Sebastian Kohlhepp, der ganz kurzfristig für erkrankten Tuomas Katajala derartig einsprang, als sei er von Anfang an vorgesehen gewesen. Zwar half ihm sicherlich, dass er einerseits umfassende Routine mit historisch-informierter Praxis in tieferer Stimmung hat und andererseits die Partie Idomeneos zu Jahresbeginn an der Kölner Oper gesungen hatte, doch muss man das erstmal bezüglich effektiv sitzender Rezitative, ohne Drücken oder Enge gemeisterter Koloraturarie „Fuor del mar“ oder erwähnten Ensemblenummern abrufen. So gelang ihm ein Idomeneo, der sich sicher, nahbar und royal gegen Neptun stemmte, reuig-bittend wie pflichterfüllt in den Dienst von Sohn und Volk stellte und ebenfalls ein Garant für diese sehr respektable Herner Aufführung war.