Unter dem Titel LoveAffairs präsentieren derzeit elf Stipendiaten der „Akademie Musiktheater heute“ der Deutsche Bank Stiftung für die Bereiche Komposition, Regie, Dramaturgie, Dirigat, Bühnenbild und Kulturmanagement präsentierten ihre vier Neuproduktionen Nachtigall, Musical Land, Querelle und Fall in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin, die seit 2012 als eine weitere Spielstätte des Hauses fungiert.
Schon beim Eintritt des Publikums hörte man eine Hintergrundmusik vom Klavier und sah den Sänger Gideon Poppe und zwei Tänzer in der Mitte des Bühnenbereichs sowie das Orchester auf dem Podium. Die Zuhörern konnten es sich auf Sitzkissen, Hocker und Klappenstühlen gemütlich machen. Alles sah wie ein „stand-by“ zur Vorstellung aus, schon auf den ersten Blick war ein spektakulärer Moment spürbar. An die Klaviermusik schloss sich nahtlos das Musiktheater Nachtigall an, inspiriert von Oscar Wildes Kunstmärchen Die Nachtigall und die Rose. Die Komponistin Birke J. Bertelsmeier sowie die Librettistin und Regisseurin Nina Dudek entwickelten Ideen der Liebe, die in der Originalquelle von Wilde die Träume der Nachtigall sind, und erschufen so ein musikalisches Monodrama, in dem der Gesangssolist Gideon Poppe melancholisch aber auch leidenschaftlich mit langen Phrasen sang.
Im Vergleich zu der seriösen Fragestellung der Nachtigall – Was ist die Liebe? – machte Musical Land von Dariusz Przybylski danach einen eher ulkigen Eindruck mit einer von den Librettisten Amy Stebbins und Felix Seiler ausgedachten Fantasiegeschichte. Es stellte sich dabei eine völlig andere Frage: Was kann die Zukunft des Musicals sein? Bekannte Musical-Figuren wie Maria aus Sound of Music, Annie und Evita Perón dargestellt von Alexandra Hutton, Christina Sidak und Laila Salome Fisher sangen mal im Stil einer Oper, mal im Stile eines Musicals, je nach Situation flexibel mit Ironie und Humor. Auf die zu Anfang aufgeworfene Frage gab Musical Land eine brutale Antwort: Die Entstehung der Atonalität und der Zwölftonmusik ist der Tod des Musicals! Am Ende ist es Arnold Schönberg, der auf der Bühne alle umbringt.
Bertelsmeiers Oper Querelle, deren Originalroman von Jean Genet sowohl Hetero- als auch Homosexualität, Drogenhandel und Mord behandelt, diente dazu, diesem dramatischen Roman eine neue Inszenierung zu geben. Obwohl Lysiane im Original Genets die einzige weibliche Figur auf der Bühne war, komponierte Bertelsmeier für einen Frauenchor. Im Kontrast zu dem prächtigen Aussehen Lysianes trugen die anderen Sängerinnen Suspensorien, die ein Symbol des männlichen Geschlechtsorgans darstellten. Daher sind sie weder als Männer noch als Frauen zu erkennen und im extremen Sinne als von der sexuellen Identität befreite Menschen zu bezeichnen, die mit vom Geschlecht unabhängiger Liebe leben. Außerdem geht es bei diesem Opernstück um die musikalische Darstellung verschiedener Zeitschichten. Abgesehen davon, dass man auf der Bühne alles in Echtzeit erlebte, wurden unterschiedliche Videos auf zwei Leinwände projiziert und synchron dazu mit vorproduzierter und gespielter Musik unterlegt. Die Sängerinnen auf der Bühne reflektierten die Aktionen auf den Leinwänden und setzten so die Gegenwart und Vergangenheit zusammen. Dieser Komplex der Zeitdarstellung ist experimentell und krönte die kollektive Arbeit der jungen Theaterschaffenden.
Als Finale der LoveAffairs gaben die Akademisten Fall von Przybylski, ein Werk, das von der Zufälligkeit oder das Zufallsphänomen in der Liebe handelt. Die auffällige Gattungsbezeichnung Zufallsoper entstand, weil die Reihenfolge der Noten für das Orchester, den Kinderchor und das Gesangsduo immer wieder vor der Vorstellung durch einen Zufallsgenerator bestimmt wird. Am Anfang und Ende klingt alles gleich, aber der Mittelteil, bei dem die gemeinsame Stoppuhr läuft, wird bei jeder Aufführung anders gespielt, und diese Einmaligkeit der Musik spielte eine bedeutende Rolle. An der Aufführung beteiligten sich drei Dirigenten für jeweils drei Ensemblegruppen, die trotz dreier abweichender Tempi in einer homogenen Zeitspanne agierten. Bini Lee und Jörg Schörner, die als Gesangduo für die solistische Ebene verantwortlich waren, kontrastierten mit ihren klangvollen Stimmen den Sprechgesang des Kinder- und Jugendchors. Obwohl die drei Ensemblegruppen voneinander unabhängig musizierten, erklangen die musikalischen Ereignisse in jedem Moment harmonisch.
Musiker aus dem Orchester der Deutschen Oper bildeten ein kleines Kammerensemble und begleiteten unter der Leitung von Martin Nagashima Toft alle vier zeitgenössischen Opernstücke. Obwohl einzelne Musiker ab und zu solistisch überfordert waren, ging das Ensemble hervorragend mit den verschiedenen Stilen um. Der Kinderchor der Deutschen Oper Berlin, der außer bei der Nachtigall an allen anderen Aufführungen mitwirkte, leistete einen großen Beitrag zu dieser gelungenen Vorstellung. Insbesondere beim Stück Fall hinterließ er zusammen mit dem Jugendchor der Deutschen Oper Berlin einen sehr positiven Eindruck, wobei man die künstlerische Mitarbeit des Kinderchorleiters Christian Lindhorst nicht vergessen darf. In diesen vier Musiktheaterstücken verschmolzen homogen die originellen Ideen der elf jungen Künstler. Es war ein intensiver und revolutionärer Musiktheaterabend, der einen bleibenden Eindruck hinterließ und diesem Genre eine neue Zukunft gab.